Mehr Sicherheit um jeden Preis

Das Stockholmer Programm der Europäischen Union

Christine Wicht

Flüchtlingsbekämpfung" wurde bekanntlich nicht zum Unwort des Jahres
2009 gewählt, gelangte aber zumindest auf den zweiten Platz der
"sprachlichen Missgriffe". Dabei war es niemand geringeres als
Bundeskanzlerin Angela Merkel, die mit dieser Wortschöpfung zu Beginn
des letzten Jahres den deutschen Beitrag an Europas Grenzen würdigte.
Im ersten Moment mag die menschenfeindliche Vokabel wie ein Lapsus
wirken; immerhin könnte sie dem Jargon der extremen Rechten entstammen.
Tatsächlich aber steht sie für die programmatischen Zukunftsstrategien
der europäischen Migrations-, Justiz- und Innenpolitik und für die
zunehmend härtere Gangart der EU-Staaten bei ihrer Abschottung nach
außen und der Überwachung nach innen.

Mit dem im vergangenen Dezember auf der Stockholmer
Sicherheitskonferenz beschlossenen Maßnahmenkatalog strebt die EU die
Einrichtung einer einheitlichen europäischen Sicherheitsarchitektur und
einen "Raum der Freiheit, der Sicherheit und des Rechts im Dienste der
Bürger" an. Diese "Sicherheits- und Rechts-Agenda" für die Jahre 2010
bis 2014 ist zwar bislang lediglich eine Absichtserklärung, die in
Richtlinien oder Gesetze umgesetzt werden muss, um rechtswirksam zu
werden, hat aber in der gegenwärtigen politischen Großwetterlage gute
Chancen, implementiert zu werden.

Gemäß dem "Prinzip der Verfügbarkeit" soll der Informationsaustausch
zwischen den nationalen Sicherheitsbehörden erheblich vereinfacht
werden. Nationale Datenbanken sollen innerhalb der EU zentral vernetzt
und den Behörden der einzelnen Mitgliedstaaten frei zugänglich gemacht
werden.

Diese weitreichenden Beschlüsse der Europäischen Union sind in der
öffentlichen Wahrnehmung weitgehend unbeachtet geblieben, da sich die
Medien auf den zeitgleich stattfindenden Umweltgipfel in Kopenhagen
konzentrierten. Mit fatalen Folgen: Schließlich wissen die EU-Bürger
nicht, welche Informationen im Zuge der Terrorismus- und
Verbrechensbekämpfung gespeichert werden, wer genau Zugriff auf diese
Daten erhält und nach welcher Zeitspanne deren Löschung vorgesehen ist.

Unter anderem legt das Mehrjahresprogramm die flüchtlingspolitische
Agenda der EU für die nächsten fünf Jahre fest. Damit wird der bereits
zuvor eingeschlagene politische Kurs der Einmauerung, Überwachung und
Kontrolle erheblich verschärft – mit nicht selten tödlichen
Konsequenzen.

High-Tech-Festung Europa

Seit Beginn der 90er Jahre
verstärkt die Europäische Union kontinuierlich die militarisierten
Kontrollen an ihren Außengrenzen. Mit dem Stockholmer Programm plant
sie nun den Ausbau des Europäischen Grenzüberwachungssystems
("Eurosur"). Mit Hilfe von Satelliten, Überwachungskameras in
Flugzeugen und Drohnen soll Eurosur die europäischen Grenzen sichern
und die gesammelten Daten innerhalb der EU weiterleiten. Auch die
europäische Grenzschutzagentur "Frontex", spezialisiert auf
militärische Flüchtlingsabwehr in der Mittelmeer-Region, soll ausgebaut
werden, um in einem "lückenlosen" Überwachungsnetz illegalisierte
Flüchtlinge aufzuspüren.

Dennoch wird auch in den nächsten Jahren eine wachsende Zahl von
Flüchtlingen die lebensgefährliche Überwindung der EU-Grenzen auf sich
nehmen. Die katastrophale Situation in ihren Heimatländern und die
Hoffnung auf ein besseres Leben in Europa lässt sie jedes Risiko in
Kauf nehmen. Dessen ungeachtet sucht man im Stockholmer Programm
vergeblich nach Lösungen, welche die Fluchtursachen bekämpfen.
Stattdessen nimmt man – ganz im Geiste der "Flüchtlingsbekämpfung" –
steigende Opferzahlen bei der Abwehr- und Festungspolitik bereitwillig
in Kauf: Jahr für Jahr ertrinken hunderte, wenn nicht tausende
Migranten bei dem Versuch, die europäischen Grenzen unbemerkt auf dem
Seeweg zu überwinden.

Damit die Flüchtlinge bereits vor den europäischen Grenzen abgefangen
werden, finanziert die EU seit einigen Jahren Abschiebelager in
Drittstaaten und trifft mit angrenzenden "Pufferstaaten" Vereinbarungen
über die Rückführung von Migranten. Bereits 2004 wurde das Konzept der
Europäischen Nachbarschaftspolitik (ENP) entwickelt, welches Visa- und
Handelserleichterungen sowie spezielle Förderprogramme für die
Nachbarstaaten der EU vorsieht. Im Gegenzug verlangt die Europäische
Union von ihren Anrainern eine verlässliche Grenzsicherung und die
Einhaltung von Rückübernahmeabkommen.[1]
So wird beispielsweise die Ukraine im Zeitraum von 2007 bis 2010 mit
494 Mio. Euro gefördert, wovon 30 Mio. Euro ganz gezielt zur
Etablierung von neuen Internierungslagern für Flüchtlinge
bereitgestellt werden.[2]

Um die Flüchtlingsabwehr an den Grenzen zu intensivieren, sieht das
Stockholmer Programm vor, Geheimdiensten den Zugriff auf bisher
lediglich polizeilich genutzte europäische Datenbanken zu ermöglichen
und die Informationssysteme innerhalb der Union in der "Agentur zum
Betriebsmanagement von IT-Großsystemen" zusammenzuführen und zu
verknüpfen.[3]
Zur Bewältigung des Datenflusses wird die Schaffung einer
Verwaltungsbehörde unter dem Kommando von Europol und Frontex
angestrebt, damit die geplante "Interoperabilität von IT-Systemen
vollständig datenschutzkonform" verlaufe. Die Polizei- und
Sicherheitsbehörden aller Mitgliedstaaten erhielten damit Zugang zum
Schengener Informationssystem (SIS), zum Zollinformationssystem (ZIS),
zum Visa-Informationssystems (VIS) und zur EU-Fingerabdruck­Datenbank
für Asylbewerber (Eurodac).

Insbesondere der erweiterte Zugriff auf die verknüpften Datenbanken
wird von europäischen Bürgerrechtlern heftig kritisiert. Vor allem der
unkontrollierte Zugriff von Geheimdiensten auf sensible Daten wird in
Deutschland aufgrund der Erfahrung mit der Gestapo problematisch
gesehen. Eine Diskussion um das Trennungsgebot von Militär, Polizei,
Grenzschutz und Geheimdiensten wird zunehmend theoretisch, wenn die
Aufgabenfelder sich teilweise überlagern und ursprünglich
nachrichtendienstliche, "heimliche" Ermittlungsmethoden europaweit auch
den Polizeibehörden zur Verfügung stehen. Zudem befürchten
Datenschützer infolge der Etablierung dieses gigantischen
Informationsverbundes erhebliche Datenschutzverstöße.

Terrorismusbekämpfung gegen die Grundrechte

Ein ähnlicher
Paradigmenwechsel wie in der Datenkontrolle vollzieht sich in der
Terrorabwehr, wo nach dem Stockholmer Programm ebenfalls die Vernetzung
bislang getrennter Datenbanken vorgesehen ist. Konkret soll die
geheimdienstlichen Erkenntnisse der Gemeinsamen Lage- und
Analyseabteilung SitCen[4]
zukünftig dem Europäischen Rat, der EU-Kommission, Europol und Eurojust
zugängig sein. Nach dem Vorbild des seit 2004 in Deutschland
bestehenden Gemeinsamen Terrorismusabwehrzentrum (GTAZ) sind ähnliche
Einrichtungen in sämtlichen EU-Mitgliedstaaten geplant. In die Arbeiten
des GTAZ sind der Bundesnachrichtendienst, die Kriminal- und
Verfassungsschutzämter der Länder, die Bundespolizei, das
Zollkriminalamt und der Militärische Abschirmdienst eingebunden.

Des Weiteren haben sich die EU-Innenminister Ende November 2009 für die
Verlängerung des umstrittenen Swift-Abkommens ausgesprochen, das
US-Ermittlern den Zugriff auf europäische Kontenbewegungen erlauben
soll. Das in Belgien beheimatete Finanzdienstleistungsunternehmen
"Society for Worldwide Interbank Financial Telecommunications" (Swift)
sammelt Informationen über Finanztransaktionen von rund 7800 Banken,
Brokerhäusern, Börsen und Finanzinstituten in aller Welt. Das bis Ende
Oktober 2010 gültige Interimsabkommen ist am 1. Februar in Kraft
getreten; am 11. Februar legte das EU-Parlament jedoch sein Veto ein
und lehnte das heftig umstrittene Abkommen mit deutlicher Mehrheit ab.
Der Swift-Vertrag wurde daraufhin vorläufig ausgesetzt.

Auch die zuvor von der Deutschen Ratspräsidentschaft erhobene Forderung
nach einer umfassenden Überwachung des Internet und einer
Zusammenarbeit der Sicherheitsbehörden der Mitgliedstaaten in diesem
Bereich taucht erneut im Stockholmer Programm auf. Die Kapazitäten
sollen auch hier aufgestockt werden, um eine bessere Kontrolle des
World Wide Web hinsichtlich "terroristischer Aktivitäten" innerhalb der
EU zu gewährleisten. Es ist zu befürchten, dass die Kriminalitäts- und
Terrorbekämpfung genutzt wird, um einer umfassenden Internetzensur den
Weg zu bereiten, wie dies bereits die Diskussionen in Frankreich und
der Bundesrepublik im vergangenen Jahr zeigten.

Gerade der vereitelte Terroranschlag auf den Airbus A 330 von Amsterdam
nach Detroit im Dezember vergangenen Jahres machte jedoch deutlich,
dass kein Mangel an Daten, sehr wohl aber an einer effizienten
Bewertung der vorliegenden Informationen besteht. Dennoch sieht die EU
offenbar keinen anderen Weg, als rund 500 Millionen EU-Bürger unter
Generalverdacht zu stellen, sie zu überwachen sowie ihre
personenbezogenen Daten zentral zu sammeln und auszuwerten. Auf diese
Weise werden demokratische Grundrechte über Bord geworfen, die die
wesentliche Errungenschaft insbesondere europäischer Geschichte
darstellen.

Entwicklungshilfe neu definiert

Mit dem Stockholmer Programm
verschwimmt aber nicht nur die Grenze zwischen Terrorbekämpfung und
Flüchtlingsabwehr, sondern auch zwischen zivilen außenpolitischen und
militärischen Aufgaben. Künftig soll die Zusammenarbeit von Militär,
Polizei und Entwicklungshilfeorganisationen bei Auslandseinsätzen
verstärkt werden.

Bereits im September 2004 hatten sich die EU-Mitgliedstaaten Italien,
Spanien, Frankreich, Portugal und die Niederlande vertraglich auf die
Gründung einer "Europäischen Gendarmerietruppe" (EGF) geeinigt.
Inzwischen hat auch Rumänien diesen Vertrag unterzeichnet und Polen hat
ein Partnerschaftsabkommen mit der EGF vereinbart.[5]
Das Stockholmer Programm sieht nun vor, die Gendarmerietruppe in den
Rechtsrahmen der EU zu überführen. Damit könnte die EGF in ganz Europa
tätig werden.

Bei der EGF handelt es sich um ein bis zu 3000 Mann starkes
Soldatenheer, das mit zivilen Aufgaben beauftragt ist, aber auch
Aufstände in Krisenregionen inner- und außerhalb Europas niederschlagen
kann und soll. Die paramilitärische Truppe arbeitet eng mit der
Grenzschutzagentur Frontex zusammen, etwa wenn sie im Mittelmeer
Flüchtlingsboote mit Küstenschutzbooten, Hubschraubern und Flugzeugen
an der Landung hindern und aufs offene Meer abdrängen. Auch wenn die
bundesdeutsche Polizei der EGF noch nicht beigetreten ist, kooperiert
sie doch bereits mit polizeilichen und militärischen Einheiten anderer
Staaten – etwa im Kosovo und in Afghanistan. Nach Angaben des
Europäischen Rats unterstützt die EGF am Hindukusch im Rahmen der
NATO-Ausbildungsmission-Afghanistan (NTM-A) unter anderem den Aufbau
polizeilicher Infrastrukturen.[6]

Der Verband Entwicklungspolitik deutscher Nichtregierungsorganisationen
e.V. (Venro) übt heftige Kritik an der Vermengung ziviler und
militärischer Aufgaben: Wenn Soldaten zunehmend Aufgaben im Bereich des
Wiederaufbaus und der Nahrungsmittelhilfe übernehmen, gefährden sie
damit auch die unabhängigen humanitären Hilfsorganisationen, deren
Arbeit sich nicht nach politischen (und schon gar nicht nach
militärischen) Erwägungen richtet, sondern allein dem "humanitären
Imperativ" verpflichtet ist.[7]

Europäische Präventionslogik

Neben der Flüchtlings- und Terrorismusbekämpfung nehmen die
EU-Innenminister mit ihrem Fünf-Jahres-Plan schließlich auch die
Kriminalitätsverfolgung ins Visier. Zum Zwecke der grenzübergreifenden
Verbrechensbekämpfung wurde beschlossen, dass Europäische
Strafregisterinformationssystem (ECRIS) auszuweiten und einen Index von
Straftätern aus Drittstaaten (EICTCN), einen europäischen
Kriminalaktennachweis (EPRIS) sowie ein Europäisches Netz zur
Kriminalitätsverhütung (EUCPN) einzurichten. Das EUCPN ist ein
Beobachtungszentrum für Verbrechensprävention, in welchem alle EU-Daten
zu Verbrechen gesammelt und statistisch ausgewertet werden. Es verfügt
zudem über ein Sekretariat, das an Europol angeschlossen werden soll.
In Kooperation mit der europäischen Polizeibehörde sollen dann mit
Hilfe von Data-Mining-Programmen, die das Durchsuchen gigantischer
Datenbestände erlauben, Prognosen über zukünftige Straftaten erstellt
werden.

Darüber hinaus hat die EU-Kommission im November 2009 das Grünbuch zur
"Erlangung verwertbarer Beweise in Strafsachen aus einem anderen
Mitgliedstaat" angenommen. Dabei handelt es sich um ein umfassendes
System zur Erlangung von Beweismitteln in grenzüberschreitenden
Straffällen.

Im Zuge der Bekämpfung grenzüberschreitender Kriminalität wird zudem
die bereits bestehende elektronische Vernetzung der nationalen
Strafregister (e-justice) angestrebt. Zudem verfolgt die EU den Plan,
die Bestimmungen für Strafermittlungen zu vereinfachen, wenn diese im
Hoheitsgebiet eines anderen Mitgliedstaats ausgeführt werden. Wurde
bisher in Verträgen geregelt, welche Informationen unter welchen
Bedingungen zwischen den Mitgliedstaaten ausgetauscht werden dürfen,
geht das jetzt zur Geltung kommende "Prinzip der Verfügbarkeit" davon
aus, dass sämtliche Daten ohne Einschränkungen weitergegeben werden
können.[8]
Datenschützer kritisieren daher zu Recht, dass es sich bei diesen Daten
um sensible Informationen handeln könne und bisher nicht geklärt sei,
wie die EU einen sicheren Schutz vor dem Zugriff Unbefugter
gewährleisten wolle.

Des Weiteren planen die EU-Innenminister, eine Strategie nach den
entsprechenden Bestimmungen des Prümer Vertrags auszuarbeiten, um den
Informationsaustausch zwischen den Polizeibehörden der Mitgliedstaaten
zu erleichtern. Der Prümer Vertrag sieht vor, dass Polizei- und
Strafverfolgungsbehörden direkt auf bestimmte Datenbanken, etwa
DNA-Analysen, zugreifen können, die von den Behörden der anderen
Vertragsstaaten geführt werden. Persönliche Identifikationsdaten,
Ergebnisse von DNA-Analysen, Fahrzeugregisterdaten,
Telekommunikationsstandards- und Verbindungsdaten sowie
Identifizierungs- und Personenstandsdaten können damit
grenzübergreifend und ohne richterlichen Vorbehalt ausgetauscht werden.
Zudem sieht der Prümer Vertrag innerhalb der Unterzeichnerstaaten
gemeinsame Einsatzformen vor, wie beispielsweise die Durchführung
gemeinsamer Polizeistreifen, das grenzüberschreitende Eingreifen zur
Gefahrenabwehr sowie die Übertragung hoheitlicher Befugnisse auf
Polizeibeamte anderer Vertragsstaaten.

Da der Prümer Vertrag lediglich ein zwischenstaatliches Abkommen ist
(geschlossen zwischen derzeit zehn EU-Mitgliedstaaten und Norwegen),
agieren die Unterzeichnerstaaten bisher bewusst außerhalb des
EU-Rechtsrahmens, das heißt sie umgingen mit dem Vertragsschluss
bewusst die formellen Strukturen und Rechtsprinzipien der EU sowie das
Einstimmigkeitsprinzip auf Ministerratsebene in der Europäischen Union.

Bereits auf der EU-Tagung im Juni 2008 einigte sich der Ministerrat der
europäischen Innen- und Justizminister – unter deutschem Vorsitz ­,
zentrale Teile des Vertrags von Prüm in EU-Recht zu überführen. Damit
werden sämtliche Mitgliedstaaten verpflichtet, Datenbanken für die
automatisierte Datenübertragung zwischen den EU-Staaten einzuführen.
Auf diese Weise erhält jeder EU-Mitgliedstaat Zugriff auf sämtliche
Daten.

Um Europol zu stärken, sieht das Programm vor, Beamte der
Mitgliedstaaten in gemeinsame Ermittlungsgruppen einzubeziehen und die
nationalen Datenbanken aller Mitgliedstaaten auch Europol und Eurojust
zugänglich zu machen. Darüber hinaus soll die Kopplung verschiedener
Polizeien künftig mit Hilfe eines Ad-hoc-Netzes vereinfacht werden. Auf
diese Weise können mobile Geräte, wie Handys oder Notebooks, in einem
Datennetzwerk Informationen austauschen, ohne dass dafür eine
übergeordnete Netzinfrastruktur erforderlich ist. Überwachungskameras
und Bewegungsmelder sollen die von ihnen gesammelten Daten fortan
ebenfalls selbständig in dieses Netz senden können. Eigenen Angaben
zufolge will der Hersteller IABG das dafür entwickelte mobile
Ad-hoc-Kommunikationssystem HiMoNN[9]
künftig auch mit den Galileo-PRS-Signalen (GPS) koppeln. Damit könnten
die Sicherheitskräfte Automobile mit "verdächtigen" Personen jederzeit
orten. Das neue System soll während der Olympischen Sommerspiele 2012
in London erstmalig getestet werden und fortan bei sportlichen
Großereignissen und Demonstrationen zum Einsatz kommen.

Schließlich zielt das Stockholmer Programm auf eine zentrale
Errungenschaft des europäischen Integrationsprozesses ab – die
Reisefreiheit der EU-Bürger. Während seiner Amtszeit als
Bundesinnenminister behauptete Wolfgang Schäuble, dass die
Schengen-Erweiterung ein "Mehr an Freiheit und zugleich ein Mehr an
Sicherheit" bedeute.

Tatsächlich bescherte das Schengen-Abkommen den EU-Bürgern erleichterte
Grenzüberquerungen, nämlich ohne zeitaufwändige Passkontrollen. Doch
das Schengener Informationssystem ist schon längst keine einfache
Datenbank mehr, sondern legt den Schwerpunkt auf "Prävention und
Erkennung von Bedrohungen der öffentlichen Ordnung und Sicherheit".
Darüber hinaus ist künftig ein elektronisches Registriersystem für
Reisen in und aus den Hoheitsgebieten der EU-Mitgliedstaaten
vorgesehen. Ferner wird die Einführung eines europäischen
Registriersystems für Reisende (RTP) geprüft. Mit einem so genannten
"Entry-Exit-System" sollen Einreise-Informationen künftig elektronisch
speichert und vernetzt werden. Auf diese Weise können beispielsweise
abgelaufene Visa sofort erkannt und die zuständigen Behörden
entsprechend alarmiert werden. Der herkömmliche Reisepass mit Stempel
und Foto hat damit in Bälde ausgedient und der europäische Raum wird
zwar ein grenzenloser bleiben, dafür aber umso schärfer überwacht und
kontrolliert werden.

Wessen Sicherheit?

Nahezu unbemerkt von der Öffentlichkeit
setzen die EU-Mitgliedstaaten mit dem Stockholmer Programm ihre
zunehmend repressive Politik in der Union fort. Das Programm der
nächsten fünf Jahre stärkt die Festung Europa und erhöht die
Überwachung der EU-Bürger, deren Daten in unüberschaubaren Datennetzen
gesammelt, gespeichert und verarbeitet werden, um auf diese Weise – so
die Hoffnung der EU-Innenminister – die Bürger Europas so weit wie
irgend möglich kontrollieren zu können.

Der Verdacht liegt nahe, dass hinter dem Stockholmer Programm auch die
Angst der Regierenden vor den Folgen ihrer ungerechten Sozialpolitik
und der Gefahr krisenhafter Zuspitzungen steckt. Steigende
Arbeitslosigkeit, anhaltende Umverteilung von unten nach oben und
wachsende soziale Benachteiligung am unteren Rand könnten in den
EU-Staaten zu vermehrten sozialen Spannungen und politischen Protesten
führen. Aufgrund der Regelungen von Stockholm könnten künftig
Großdemonstrationen von enormen Überwachungsmaßnahmen, Polizei- und
Militäraufgebot begleitet sein.

Die dramatische Gefährdung der Grundrechte durch die veränderte
"Sicherheitsarchitektur" wird dagegen allzu leichtfertig mit dem
Argument abgetan, dass wir in einer gesunden Demokratie lebten und ein
Missbrauch durch staatliche Organe nicht möglich wäre. Die
verfassungsrechtlichen Grenzen der Staatsgewalt und der "Staatsmoral"
werden unter dem Vorwand der Terrorismusbekämpfung immer mehr
aufgeweicht und die Balance zwischen Sicherheit und Freiheit seit
Jahren zugunsten der Sicherheit verschoben. Faktisch zahlen wir, als
Bürgerinnen und Bürger der Europäischen Union, den immensen Preis für
diesen vermeintlichen "Sicherheitsgewinn" zu Lasten unserer Freiheit.

Die entscheidende Frage aber lautet: Was geschieht, wenn
demokratiefeindliche Kräfte an Macht und Einfluss gewinnen und zur
Erhaltung derselben und zur Bekämpfung ihrer Gegner die zur
Terrorismus- und Kriminalitätsbekämpfung eingeführten Instrumente
missbrauchen? Es wäre nicht das erste Mal, dass zivilgesellschaftlicher
Protest selbst zum "Terrorismus" erklärt würde.

Tatsächlich aber befasst sich das Stockholmer-Programm weder mit den
Ursachen des Terrorismus noch mit der Frage, warum Menschen Zuflucht in
Europa suchen. Es kann deshalb auch das proklamierte Ziel, einen "Raum
der Freiheit, der Sicherheit und des Rechts im Dienste der Bürger" zu
schaffen, nicht erreichen. Wie sagte so schön Kommissionschef Barroso:
Das Stockholmer Programm soll konkrete und greifbare Veränderungen für
die Bürger in der EU bringen. In der Tat: Dank des Stockholmer
Programms werden Europas Bürger sehr konkrete Einschränkungen ihrer
Freiheit hinnehmen müssen.

  • [1] Vgl. http://ec.europa.eu/world/enp/policy_de.htm.
  • [2] Vgl. FRONTEX-Widersprüche im erweiterten Grenzraum, Informationsstelle Militarisierung, August 2009.
  • [3]
    Obwohl dieses Vorhaben von der deutschen Ratspräsidentschaft formuliert
    wurde, bestreitet die Bundesregierung in ihrer Antwort auf eine Kleine
    Anfrage der Linksfraktion (BT Drs.4365) die Schaffung eines solchen
    Informationsverbundes (vgl. Jan Korte, Zeit für eine neue
    Bürgerrechtsbewegung. Ein Diskussions- und Arbeitspapier, Berlin 2007).
  • [4] EU Situation Centre, in dem die Informationen der Geheimdienste zusammengetragen und ausgewertet werden.
  • [5] Vgl. www.eurogendfor.org.
  • [6] Vgl. Schlussfolgerungen des Vorsitzes zu der Tagung des Europäischen Rates in Brüssel (18./19.6.2009), S. 27.
  • [7]
    Vgl. Venro, Fünf Jahre deutsche Provincial Reconstruction Teams (PRTs)
    in Afghanistan: Eine Zwischenbilanz aus Sicht der deutschen
    Hilfsorganisationen, 2009.
  • [8] Vgl. www.datenschutzzentrum.de/polizei/060329-pruem.htm.
  • [9] Vgl. Highly Mobile Network Node, IABG, www.iabg.de/infokom/telekommunikation/himonn_de.php.

Source: http://www.eurozine.com/articles/2010-03-24-wicht-de.html