Die europäische Sicherheitsarchitektur einstürzen!

Für mehr sicherheitskritisches Verhalten in Europa: Gegen NATO, G8 und die schwedische EU-Präsidentschaft 2009

Aus dem Widerstand gegen den G8-Gipfel 2007 in Heiligendamm lassen
sich, wie auch bei anderen Protesten zuvor, Schlussfolgerungen zum
Gelingen einer breiten Mobilisierung ziehen. Neben den drei großen
selbstorganisierten Protest-Camps und einer internationalen Infotour im
Vorfeld des Gipfels wurde eine internationale Bezugnahme und Vernetzung
durch ein Vorbereitungscamp und Treffen außerhalb Deutschlands
versucht. Innerhalb der Bewegungen wurde entschieden, sich nicht auf
die G8-Klima-Debatte einzulassen und stattdessen die Proteste unter
eigene Kampagnen-Themen zu stellen: Migration, Antimilitarismus und
Globale Landwirtschaft.

Mit diesem Text wollen wir einige dieser Punkte mit Blick auf den NATO-Gipfel
in Strasbourg/ Kehl und den G8 in Italien, aber auch die schwedische
EU-Präsidentschaft 2009 aufgreifen. Wir schlagen eine Kampagne gegen
eine “Europäische Sicherheitsarchitektur” vor. Wir skizzieren
Entwicklungen polizeilicher Zusammenarbeit auf EU-Ebene und wünschen
uns eine europäische Antirepressionsarbeit, die über eine bloße Kritik
und Skandalisierung von Polizeigewalt hinausgeht. Diese politische
Antirepressionsarbeit muss neue Formen sozialer Kontrolle als
integralen Bezugspunkt von radikalen Bewegungen ernst nehmen.

No Future für Freiheit

Spätestens nach dem 11. September 2001 haben sich nicht nur die
außenpolitischen Koordinaten der EU verändert. Unter der Devise “Terror
comes home” wurden seitdem weit reichende Veränderungen europäischer
Innenpolitik und Polizeiarbeit hin zu einem “präventiven
Sicherheitsstaat” beschlossen. Während die EU-Außengrenzen mit neuer
Technik und grenzüberschreitender Zusammenarbeit weiter abgeschottet
werden, nehmen Überwachung und Kontrolle innerhalb der EU stetig zu.
Dazu kommen militärische und polizeiliche Auslands-Operationen der EU
in sogenannten “Drittstaaten”. Die EU will Modell stehen für einen
Sicherheitskomplex, den sie als “Servicanbieter” in andere Länder
exportieren kann. Diese Zuspitzung richtet sich nicht nur gegen
MigrantInnen und “sicherheitskritisches Verhalten”. Sie bietet
willkommene Spielräume, einer wiederaufflammenden
globalisierungskritischen Bewegung ein paar Knüppel zwischen die Beine
zu werfen.

Die Europäische Union definiert Europa seit 1999 als einen “Raum der
Freiheit, der Sicherheit und des Rechts”. Zukünftig gibt es mehr
polizeiliche und justizielle Zusammenarbeit in Straf- und Zivilsachen.
InnenpolitikerInnen träumen von einem EU-Innenministerium.

Auf polizeilicher Ebene haben Organe der EU mehr Kompetenzen
erhalten, neue Institutionen und Programme sind entstanden. 2007 trat
erstmals die sogenannte “Future Group” zusammen. Sie konstituiert sich
aus den Innenministern der Länder die den EU-Vorsitz der nächsten 6
Jahre innehaben. Die “Future Group” bezeichnet sich selbst als
“informell” und nimmt Einfluss auf innenpolitische Weichenstellungen in
Bezug auf den EU-Vertrag und die Verhandlungen in Lissabon. Die
Einrichtung der “Future Group” fiel zusammen mit der EU-Präsidentschaft
Deutschlands im Jahr 2007. Unter dem Motto “Europa sicher leben” hat
der deutsche Bundesinnenminister Schäuble erfolgreich an einer
Verschärfung europäischer Innenpolitik gearbeitet 1.

Grenzüberschreitende Zusammenarbeit

Bisher war grenzüberschreitende polizeiliche Zusammenarbeit nur
zwischen einzelnen Ländern im “Vertrag von Prüm” geregelt und fand
ihren Ausdruck z.B. beim G8-Gipfel 2003, als deutsche Polizei in Genf
mit 500 Kräften und 5 Wasserwerfern gegen DemonstrantInnen eingesetzt
war. Der “Vertrag von Prüm” war ein Test und wird nun in den
“Rechtsrahmen der EU überführt”. Er ist damit für alle Mitgliedsländer
gültig. Alle Polizeibehörden werden Zugriff auf DNA
und Fingerabdruckdateien sowie Fahrzeugregisterdaten haben.
Informationsaustausch zu “Terrorismusverdächtigen und reisenden
Gewalttätern” wird vereinfacht, um Reisesperren zu verhängen oder damit
“Randalierer schnell erkannt und festgenommen” werden können. Zur
Europameisterschaft 2008 in Österreich und in der Schweiz waren 1.700
deutsche PolizistInnen eingeplant.

Europol als Schnittstelle polizeilicher Zusammenarbeit in Den Haag
darf nun nicht mehr nur Daten sammeln und Polizeien der
EU-Mitgliedsländer beraten. Durch einen EU-Parlamentsbeschluß vom
Januar 2008 wird aus dem “Europäschen Polizeiamt” nun eine EU-Agentur
zur “Koordinierung, Organisation und Durchführung von Ermittlungen und
von operativen Maßnahmen”. Der Zuständigkeitsbereich erweitert sich von
“organisierter Kriminalität” um “andere Arten schwerer Straftaten”,
also auch politische Aktionen. Der Zugriff auf das
“Europol-Informationssystem” erfolgt zukünftig ohne Umweg über
“Verbindungsbeamte”.
Diese “Verbindungsbeamte” werden von Polizeien aller Mitgliedsstaaten
in europäische Kontroll- und Entscheidungsgremien entsandt. Dazu sind
sie in polizeilichen Lagezentren bei Großereignissen vertreten. Sie
haben offiziell eine “beratende Funktion”. Tatsächlich stellen sie
wichtige Knoten im informellen Netzwerk europäischer Polizeikooperation
dar. Sie haben Zugriff auf alle Datenbanken des Entsenderlandes und
sind mit Kenntnissen z.B. von politischen Gruppen bei Gipfelprotesten
ausgestattet. Verbindungsbeamte koordinieren z.B. Reisesperren, die
zuletzt beim G8 2007 dazu führten dass 600 Personen nicht einreisen
durften weil sie z.B. zuvor “im Zusammenhang mit G8 auffällig wurden”.

Europa – Ein Raum von Überwachung und Kontrolle

Die Zusammenarbeit von Polizei und Geheimdiensten wird ausgeweitet.
In Deutschland haben das Bundeskriminalamt und der Verfassungsschutz
ein “Gemeinsames Terrorismusabwehrzentrum” bezogen, wo sie zwar
räumlich getrennt sind, aber tägliche gemeinsame Lagebesprechungen
durchführen und sich mittags in der Cafeteria treffen. Diese
Kooperation führte zu einer massiven Überwachung der Anti-G8-Bewegung
und der Einleitung von Ermittlungsverfahren mit Terrorismus-Vorwurf.
Der deutsche Terrorismus-Paragraph erlaubt weitgehende Eingriffe in die
Privatsphäre und führte z.B. zur Feststellung aller Mobiltelefone bei
Treffen des linksradikalen dissent!-Netzwerks gegen den G8. Die
Akteneinsicht Betroffener ergab dass die Ermittlungen zwar von der
Polizei betrieben, aber vom Geheimdienst initiiert waren. “Gemeinsame
Terrorismusabwehrzentren” sollen auf Vorschlag des deutschen
Innenministeriums in allen EU-Mitgliedsstaaten entstehen.

Die Überwachung des Internets nimmt europaweit zu. Das deutsche
Bundesinnenministerium hat eine europäische Initiative “check the web”
zur Bekämpfung eines “internationalen Terrorismus” gestartet. Am 8. Mai
2007 hat Europol ein “Informationsportal” freigeschaltet. Deutsche
Polizei und Geheimdienste wollen zukünftig eine gemeinsame “Internet
Monitoring und Analysestelle” betreiben. Europaweit sollen solche
“Internetüberwachungszentren” entstehen, die Webseiten zum Teil
automatisiert überwachen und in polizeilichen Datenbanken archivieren.
Neue Software findet in diesen Datenbankeinträgen “Entitäten”, also
begriffliche Übereinstimmungen oder Schnittstellen zwischen Personen
und Objekten (“Semantische Technologien”). Die Sicherheitsindustrie
entwickelt Programme, die sogar in unterschiedlichen Dateiformaten
suchen kann. Damit können Text-, Audio-, Video- und GPS-Daten miteinander in Beziehung gesetzt werden. Verfolgungsbehörden einiger Länder nutzen bereits Software der Firma SPSS,
die nach Auswertung von Datenbeständen eine “Vorhersage von Straftaten”
ermöglichen soll. Die Firma beschreibt diesen Vorgang als die
“Evolution in der Verbrechensbekämpfung”.

Mehr polizeiliche Repression und justizielle Verfolgung lässt sich
auch in anderen Ländern Europas beobachten. In Italien wurden
beispielsweise in zahlreichen Verfahren im Kontext des G8 2001 oder
Demonstrationen gegen Militarismus und Faschismus Haftstrafen zwischen
6 und 12 Jahren verhängt. In anderen Ländern werden Polizeigesetze
geändert, um Polizeien mehr Spielraum gegen “sicherheitskritisches
Verhalten” zu verschaffen.
Radikale Veränderungen haben unter der Sarkozy und Berlusconi
stattgefunden. In Frankreich können diejenigen Flugpassagiere, die als
erstes gegen die Mitnahme von Abschiebehäftlingen protestieren, wegen
Rädelsführerschaft angeklagt werden. Die italienische Polizei will
Kinder von Roma Fingerabdrücke abnehmen, wenn sie allein auf der Straße
angetroffen werden. Italienische Polizei wird fortan von 2.500 Militärs
bei der Aufrechterhaltung der öffentlichen Sicherheit unterstützt.
Das neue österreichische Sicherheitspolizeigesetz vereinfacht
rassistische Kontrollen von MigrantInnen. Die deutsche Bundespolizei
bekommt mehr Kompetenzen für Einsätze im Ausland, aber auch im Inland
etwa gegen politische Proteste. EU-Mitgliedsstaaten setzen europäische
Vorgaben um und “harmonisieren” ihre Landesgesetze beispielsweise im
Rahmen der “Vorratsdatenspeicherung” (Data Retention).
Telekommunikationsanbieter und Provider müssen Verbindungsdaten
speichern und der Polizei auf Anfrage übermitteln. Die Polizei ist
damit in der Lage jede Kommunikation nachzuvollziehen und soziologische
Beziehungs-Diagramme zu erstellen. Schutz vor Überwachung wird
zunehmend eingeschränkt. So sind NutzerInnen von Verschlüsselung in
Österreich und Großbritannien gesetzlich gezwungen der Polizei
Paßwörter herauszugeben. InnenpolitikerInnen betreiben eine allgemeine
Zusammenlegung aller polizeilichen Datenbanken europäischer Polizeien.

Institutionen und Forschungsprogramme der europäischen Sicherheitsarchitektur

Um massenhaften Widerstand etwa bei G8-Gipfeln besser kontrollieren
zu können wurden neue Institutionen und Forschungsprogramme ins Leben
gerufen. Europäische Polizeieinheiten führen gemeinsame Trainings und
Manöver in der Bekämpfung von Demonstrationen durch. In europäischen
Polizei-Akademien werden Einsatztaktiken für “Crowd Managment”
entworfen. Eine zentrale Rolle spielt die Europäische Polizeiakademie, CEPOL,
mit Sitz in Hampshire, Großbritannien: “CEPOL’s mission is to bring
together senior police officers from police forces in Europe –
essentially to support the development of a network – and encourage
cross-border cooperation in the fight against crime, public security
and law and order by organising training activities and research
findings”.
Nach den Gipfelprotesten in Genua und Göteborg 2001 initiierte die EU
2004 das Forschungsprogramm “Coordinating National Research Programs on
Security during Major Events in Europe” (EU-SEC). EU-SEC
koordiniert Polizeibehörden von EU-Staaten und Europol und gibt ein
Handbuch gegen Gipfelproteste heraus. Polizeien wird empfohlen,
Protestbewegungen zu überwachen, Daten auszutauschen, Reisesperren zu
verhängen und eine aggressive Medienstrategie zur Delegitimierung des
Widerstands zu betreiben. Mittels Fragebögen werden Informationen über
europäische Gruppen und Personen gesammelt: Aktionsformen, Webseiten,
Mailadressen, internationale Kontakte, bevorzugte Reisewege,
Transportmittel und Unterkünfte.
EU-SEC wird koordiniert und gesteuert vom “United Nations Interregional Crime and Justice Research Institute” (UNICRI).
Unter dem Motto “Advancing security, serving justice, building peace”
unterhält das UN-Institut mehrere Arbeitsgruppen zu Themen rund um
Sicherheit. UNICRI gibt das “Counter-Terrorism Online Handbook” heraus.
Beim UNICRI angesiedelt ist eine Arbeitsgruppe “International Permanent Observatory on Security during Major Events” (IPO) mit Sitz im italienischen Turin. Das IPO
berät Regierungen bei der Planung der Sicherheitsarchitektur für
Großereignisse. Die Inanspruchnahme ist für die anfragende Behörde
kostenlos. Zur Zeit wird an einem “Handbuch für G8-Staaten” gearbeitet.
Offizielle Einsatzgebiete seit der Gründung 2006 waren bisher die
G8-Gipfel in St. Petersburg und Heiligendamm, der Weltbank-/ IWF-Gipfel in Singapur und das APEC-Treffen in Vietnam. Auch die Olympiade 2008 in Peking sowie der G8-Gipfel in Japan 2008 werden vom IPO “betreut”.

Ein stark gekürzter Auszug des Unterstützungsangebots:

  • Aufklärung: Geheimdienstdatenbanken, Ziel- und
    Problemidentifizierung, Erhalt und Auswertung von Informationen,
    Internet- und Telekommunikationsangelegenheiten
  • Notfallplanung
    und Krisenmanagement: Strafverfolgungsplanung, Festnahmen und
    Gerichtsmassnahmen, Beschwerden gegen Polizei und Sicherheitskräfte
    » Verkehrsmanagement: Automatische Kennzeichenerkennung
  • Kommandogewalt und Kontrolle: IT Infrastruktur, Videoüberwachungsanlagen, Kommandozentralen, Gegenangriffe für Cyber-Attacken
  • Planausarbeitung und Projektmanagement: Rekrutierung von Planungspersonal, Finanzmanagement
  • Sicherheit
    am Veranstaltungsort: Zäune, Absperrungen, Schranken und Tore,
    Gegenangriffe, Reaktionen auf öffentliche Unordnung, Pferde und Hunde,
    Handhabung von Menschenmassen, Strategien für “schwache Ziele” wie z.B.
    Sponsoren und Medienzentren sowie Hotels
  • Medien- und PR Strategien: Pressebeziehungen, Medienbeziehungen, Einbezug der lokalen Gemeinden, Geschäftsinteressenten
  • Schutz
    von wichtigen Personen: geheimer Schutz, Management von Roten Zonen,
    Konvoi-Management, Evakuierungsplanung, Gatten/Partnerprogramme
  • Luftraumunterstützung: Hubschrauberoperationen, Luftraumobservation und Logistik
  • Logistik und personelle Ressourcen: Unterkunft und Ausrüstung, Transportzeitplanung, Erholung und Essensversorgung

Border Control: Migrationskontrolle wird militarisiert

Mit der Erweiterung der EU-Mitgliedsländer und dem Wegfall von
Grenzkontrollen werden die neuen EU-Grenzen technisch aufgerüstet:
Nachtsichttechnik, automatisierte Auswertung von Videoüberwachung,
Hochfrequenzkabel die den Wassergehalt von in der Nähe befindlicher
Körper messen und weitergeben. Neue gemeinsame Lagezentren sind
entstanden. Durch die Ausweitung des Schengen Informationssystems II (SIS II) stehen den Polizeien mehr Daten zur Verfügung. Im Visum Informationssystem (VIS)
sollen Fingerabdrücke und biometrische Daten von MigrantInnen
gespeichert werden. InnenpolitikerInnen beklagen die unzureichende
polizeiliche Kontrolle von MigrantInnen und wünschen sich den Einsatz
von RFID-Chips (Chips mit Radiowellen) in
Reisepässen. Die Chips könnten etwa an öffentlichen Orten InhaberInnen
abgelaufener Visa akustisch identifizieren, ohne dass der Pass
vorgezeigt werden müsste.

Mit der Gründung der “Grenzschutzagentur Frontex” in Warschau hat
die EU-weite “Migrationsabwehr” ein weiteres Standbein bekommen. Der
Generaldirektor Ilkha Laitinen, ein finnischer Grenzoffizier, fasst das
“Integrated Border Management” von Frontex mit dem folgendem Kriterium
zusammen: “Alle, die es nicht verdienen und die man nicht auf seinem
Territorium haben will, müssen aufgehalten werden”. In einem
“Risikoanalysezentrum” werden Flüchtlingsbewegungen prognostiziert,
Informationen an beteiligte Grenzschutzpolizeien weitergegeben und
Maßnahmen “empfohlen”. Frontex führt ein “technisches Zentralregister”
(“Toolbox”) für Ausrüstung der Mitgliedstaaten zur Kontrolle und
Überwachung der Außengrenzen. Frontex führt gemeinsame Operationen mit
nationalen Polizeien durch (“Frontex Joint Support Teams”). Zwar
verfügt Frontex über keine eigenen Einheiten zur Flüchtlingsbekämpfung.
Grenztruppen der Mitgliedsländer werden aber massiv aufgerüstet. So
haben die italienischen Carabinieri neue Boote, Hubschrauber und
Überwachungstechnik erhalten. Im Zentralregister von Frontex sind nach
eigenen Angaben 115 Schiffe, 27 Hubschrauber, 21 Flugzeuge eingetragen.
Neben Trainings führt Frontex Forschungsprogramme durch. So wird etwa
der Einsatz von “Drohnen” zur Überwachung der Grenzen untersucht und
empfohlen.
Direktor Laitinen wünscht sich zukünftig eigenes Material und operative Kräfte.

Polizeiliche Aufstandsbekämpfung außerhalb der EU

Der Vertrag von Lissabon sieht “Reformen” auch im Bereich der
Militärpolitik vor. Die “Europäische Sicherheits- und
Verteidigungspolitik” (ESVP) fordert eine
“schrittweise Verbesserung der militärischen Fähigkeiten”. Spätestens
2010 soll die EU bewaffnete Einheiten bereitstellen. Die erste
EU-Battlegroup wurde im Januar 2007 für vollständig einsatzfähig
erklärt, eine andere war bereits 2006 maßgeblich am EU-Militäreinsatz
in Kongo beteiligt.
Die EU hält allerdings ein weit weniger beachtetes Mittel zur
Intervention in “Drittstaaten” vor: Die “Europäische Gendarmerietruppe”
(EGF). Die EGF
ist eine paramilitärische Polizeieinheit, ihre Einrichtung wurde auf
den G8-Gipfeln 2002 und 2004 beschlossen. Sie soll innerhalb von 4
Wochen 3.000 PolizistInnen mobilisieren können. Truppen stellen bisher
die Niederlande, Frankreich, Spanien, Italien und Portugal. Die EGF
soll nach Militäreinsätzen in Krisengebieten die polizeiliche Kontrolle
übernehmen und die “Öffentliche Ordnung” beim “Auftreten öffentlicher
Unruhen” gewährleisten.
Der Einsatz von Polizei im Ausland gilt als “Ziviles Instrument”.
Bisher ist die Wahrung der “Öffentlichen Ordnung” in “Drittstaaten”
Aufgabe der Militärs, die bereits mit polizeilichen Einheiten
zusammenarbeiten. In Bosnien wurden z.B. Angehörige der deutschen
Bundeswehr von italienischen Carabinieri ausgebildet. Zu den
offiziellen Aufgaben der EGF
gehört z.B. “das gesamte Spektrum polizeilicher Einsätze, zivile
Befehlsgewalt oder militärisches Kommando, Kontrolle lokaler
Polizeibehörden, Strafermittlungstätigkeiten, Tätigkeiten zur
geheimdienstlichen Informationsbeschaffung, Schutz des Eigentums” etc.
Das Statut der EGF schließt einen Einsatz innerhalb der EU nicht aus.
Das Hauptquartier der EGF ist im italienischen Vicenza in einer Kaserne der Carabinieri untergebracht.
Ebenfalls in Vicenza unterhält die Polizeitruppe eine eigene Akademie (COESPU),
auf der die eigenen Kräfte sowie Einheiten anderer Länder ausgebildet
werden. Die Akademie wird von den G8-Staaten finanziert. Bei der COESPU
erhielten auch pakistanische und kenianische Polizeiführer eine
Ausbildung in “Riot Control”, die im Dezember 2007 Hunderte
DemonstrantInnen das Leben kostete.

Die Bedeutung für radikale Bewegungen

“Die Unterscheidung zwischen Völkerrecht im Frieden und Völkerrecht
im Krieg passt nicht mehr auf die neuen Bedrohungen”, erklärt der
deutsche Innenminister Schäuble. “Die Trennung zwischen innerer und
äußerer Sicherheit ist obsolet”, pflichten die deutsche Kanzlerin und
der Chef des Bundeskriminalamts bei.
Was bedeuten diese Entwicklungen für die politische Praxis von
radikalen Bewegungen im Allgemeinen und der europäischen
globalisierungskritischen Bewegung im Besonderen, außer “noch mehr
Repression”? Eine Auseinandersetzung mit Repression muss ein integraler
Bestandteil einer radikalen Bewegungspraxis sein. Deutlich wird, dass
sich die Spielräume für linke Intervention durch den Sicherheitswahn
nach dem 11.September nicht gerade vergrößert haben. Wir denken, dass
es nicht nur das Tempo oder das Ausmaß der Maßnahmen ist, das sich
verändert. Die gesamte gesellschaftliche Matrix, in der linksradikale
Politik gemacht wird, gerät in Bewegung. Die Qualität von Überwachung
und sozialer Kontrolle hat eine andere Form angenommen. Das hat neben
neuen technologischen Möglichkeiten vor allem zu tun mit
transnationaler Koordination von Kontrollinstanzen und der politischen
“Verschränkung innerer und äußerer Sicherheit”. “Krieg” und
“Repression” sind dann irgendwann von gestern, heutzutage dreht sich
alles um “Sicherheit”.
Gleichzeitig sehen wir jedoch auch konkrete Möglichkeiten, die sich
vollziehende Einengung von Bewegungsräumen als Chance für neue
Bündnisse zu begreifen, die breite gesellschaftliche Diskussionen und
unerwartete Interventionen ermöglichen. Eine Verknüpfung von
klassischer Antmilitarismus-, Antirepressions- und Migrationspolitik
liegt jedenfalls auf der Hand. Und die Tatsache, dass das Ausmaß der
neuen Maßregeln und Institutionen bis weit in den Alltag einer jeden
Europäerin hineinreicht dürfte genügend Anknüpfungspunkte bieten, einen
pro-aktiven Ungehorsam gegenüber der europäischen
Sicherheitsarchitektur auszutragen.
Unseres Erachtens bietet der G8-Gipfel 2009 hier einige Anknüpfungspunkte.

Gegen die europäische Sicherheitsarchitektur

Die Entscheidung, das 60jährige „Jubiläum“ der NATO
im Frühjahr 2009 gemeinsam im französischen Strasbourg und dem
deutschen Kehl zu zelebrieren löste bereits hektische Betriebsamkeit
innerhalb der antimilitaristischen Linken in einigen Ländern Europas
aus. In Frankreich wie in Deutschland will die etablierte
Friedensbewegung die Proteste gegen die NATO primär am Afghanistan-Krieg verankern. Gerade der NATO-Gipfel
wäre aber eine gute Gelegenheit, das komplexe Gebilde dieser „globalen
Sicherheitsarchitektur“ und die Rolle beteiligter Institutionen in den
Focus zu nehmen. Militär und Polizei unterhalten ein stets an neuer
Technikforschung ausgerichtetes Unterdrückungsrepertoire:
Computergestützte Kommandoführung, Ermittlungssoftware, Wärme- und
Körperflüssigkeitsdetektoren an Grenzen, GPS-Sender,
Satellitenüberwachung, fliegende Kameras, Taser etc. Militärische und
polizeiliche Arbeitsfelder überschneiden sich zunehmend im Bereich von
neuer Gesetzgebung und operativem Einsatz, aber auch der Schaffung von
Querschnittsorganisationen wie der Europäischen Gendarmerietruppe in
Vicenza. Genug Gründe also, mit der Anti-NATO-Mobilisierung eine radikale Kritik an der Militarisierung sozialer Konflikte im Innern wie in der Außenpolitik zu formulieren.

Der G8 in Italien böte die Möglichkeit, die internationale
polizeiliche Koordinierung gegen Gipfelproteste öffentlich zu machen
und zu kritisieren. Das EU-SEC-Programm gegen
politische Massenproteste nahm nach dem G8 in Genua seinen Anfang. Die
UN-Initiative “International Permanent Observatory on Security during
Major Events” wird von Turin aus koordiniert. Wir gehen davon aus dass
der G8 2009 nach den Erfahrungen des G8 2001 für alle diese
Einrichtungen ein Prestige-Projekt wird. Ihre Vorbereitungen für den G8
2009 dürften längst begonnen haben.

Würden sich italienische Bewegungen für Militarismus als ein
prominentes Mobilisierungsthema gegen den G8 entscheiden, könnte diese
Kritik einer militarisierten Außenpolitik zusammengehen mit dem
Widerstand gegen die neuen Koordinaten einer europäischen Innenpolitik.
Widerstand gegen diese “Verpolizeilichung innerer und äußerer
Sicherheit” könnte an der Bewegung gegen die NATO-Basis
Dal Molin im italienischen Vicenza anknüpfen. Es gibt eine jahrelange
Protestbewegung gegen den Ausbau der Basis, die bereits zu einigen
Großdemonstrationen mobilisiert hat. Vicenza als Sitz der Europäischen
Gendarmerietruppe könnte fortan ebenso ein Symbol für den Widerstand
gegen die paramilitärische Organisierung europäischer Polizei werden.
Hinzu kommt, dass nach der Unabhängigkeitserklärung des Kosovo mit
“Eulex” die größte EU-Polizeimission mit 2.000 Polizeikräften,
hauptsächlich aus Deutschland und Italien, beschlossen wurde. 700 von
ihnen sollen bei Demonstrationen eingesetzt werden. Von italienischer
Seite dürfte diese Aufgabe von den Carabinieri-Einheiten der EGF übernommen werden. “Eulex” unterstützt die KFOR-Truppen der NATO im Kosovo mit dem Aufrechterhalten der “öffentlichen Ordnung” und verbindet militärische mit “ziviler” Intervention.

Die Mobilisierung nach Italien wird einen Umgang mit der Erinnerung
an die Tage und Nächte von Genua finden müssen. Vermutlich werden
etliche AktivistInnen wegen Erfahrungen mit Polizei und Carabinieri
(oder auch nur Berichten ihrer FreundInnen) nicht an einem G8-Protest
in Italien teilnehmen wollen. Viele fühlen sich seitdem traumatisiert,
vielleicht lässt sich das sogar für die Bewegungen des “Summer of
Resistance” in Göteborg und Genua 2001 verallgemeinern. Mit dieser
Traumatisierung wäre ein Ziel polizeilicher Repression erreicht: Die
Unterbindung von Protest. Eine der möglichen Strategien zur Überwindung
eines Traumas ist das Erinnern und Wiedererzählen. Eine Mobilisierung
gegen militarisierte europäische Außen- und Innenpolitik könnte z.B.
die Rolle der paramilitärischen Carabinieri in Genua verbinden mit
ihrer gegenwärtigen Einbindung in die “europäische
Sicherheitsarchitektur” (Frontex, EGF).
Es ist davon auszugehen, dass 2009 noch nicht alle Hauptverfahren rund
um den G8 in Genua gegen DemonstrantInnen und Angehörige der Polizei
abgeschlossen sind. Verurteilte AktivistInnen gehen in Revision.
Vermutlich wird die Öffentlichkeitsarbeit zu diesen Prozessen in die
Mobilisierung 2009 integriert.

2009 endet das „Haager-Programm“ des EU Kommissariats für Freiheit,
Sicherheit und Recht. Veränderungen und neue Zielsetzungen der
„europäischen Sicherheitsarchitektur“ werden ab 1. Juli unter
schwedischer EU-Präsidentschaft in einem neuen 5 Jahres-Programm
festgeschrieben. Die Zusammenarbeit der Polizeien Europas sowie von
Europol, Eurojust und Frontex sollen optimiert und effizienter
gestaltet werden. Durch den „ständigen Fachausschuss“ im Europarat
„COSI“ wünschen sich InnenpolitikerInnen die schrittweise Installation
eines EU-Innenminsteriums.

Im September 2008 findet im schwedischen Malmö das Europäische
Sozialforum statt. Dort soll es ein Panel zu Repression geben. Wir
schlagen vor, das Sozialforum wie auch ein geplantes paralleles
autonomes Treffen als eine der Etappen für eine europäische
Koordinierung von polizeikritischen Gruppen, Antirepressionsinitiativen
und solidarischen JuristInnen zu nutzen. Dort könnten innenpolitische
Entwicklungen von Überwachung und Kontrolle in Europa zusammengetragen
werden. Interessieren würde uns z.B., welchen Widerstand es in Europa
gegen die “Europäische Sicherheitsarchitektur” gibt, wie Forderungen in
anderen Ländern in die Öffentlichkeit getragen werden, wie sich auf
Grund- und Freiheitsrechte bezogen wird. Daran anknüpfend könnten
gemeinsame Perspektiven ausgelotet werden. Vielleicht könnte aus diesem
Treffen auch eine europäische Vernetzung zur Antirepressionsarbeit beim
G8 in Italien hervorgehen.

Dieser Text ist als eine Skizze zu verstehen, die einen Beitrag
zum “Summer of Resistance 2.0” 2009 liefern möchte. Bestimmt ist es
auch genauso plausibel, statt eine Kritik der europäischen
Sicherheitsarchitektur eher Migration, Prekarisierung oder radikale,
antikapitalistische Positionen zu Klimapolitik in den Mittelpunkt
unserer Proteste zu rücken. Über mehr englischsprachige Berichte,
Positionen und Diskussionen freuen wir uns. Wir sind erreichbar über
euro-police [at] so36.net.

Activists from Gipfelsoli | Prozessbeobachtungsgruppe Rostock | MediaG8way

1 “Europa sicher leben | Living Europe Safely | L’Europe, bien sûr(e)”:
http://euro-police.noblogs.org/gallery/3874/Europa_sicher_leben.pdf

Siehe auch http://euro-police.noblogs.org und http://www.imi-online.de

Source: Update Juli 2008