„Wirksam abschieben“

Unter Protest von Menschenrechtsorganisationen bereiten Berlin und die EU eine neue Verschärfung ihrer Flüchtlingsabwehr vor. Entsprechende Vorschläge enthält ein Papier der EU-Kommission, das Ende 2009 unter schwedischer EU-Ratspräsidentschaft als "Stockholmer Programm" verabschiedet werden soll. Es geht ebenso auf deutsche Vorarbeiten zurück wie die gesamte Abschottung Europas gegen unerwünschte Migration, die auch diesen Sommer zu neuen Exzessen an den EU-Außengrenzen führt. Insbesondere die völkerrechtswidrige Abschiebekooperation mit Libyen, in die auch die deutsche Polizei involviert ist, und der desolate Umgang der griechischen Behörden mit Flüchtlingen sorgen für scharfe Kritik. Während die EU-Flüchtlingsabwehrbehörde Frontex "Erfolge" beim Aufgreifen von Migranten im Mittelmeer meldet, attestiert Amnesty International (AI) den EU-Staaten eine "eklatante Missachtung" weltweit gültigen Rechts zum Flüchtlingsschutz. AI zufolge trägt Europa mit dem Kampf gegen Immigranten maßgeblich zur Erosion internationaler Normen bei.

Gefährliche Botschaft
Die Vorwürfe, die Amnesty International (AI) bereits im Juni erhoben hat, beziehen sich auf die aktuelle Flüchtlingsabwehr der EU und berücksichtigen die geplanten weiteren Verschärfungen noch nicht. Wie AI in einer Erklärung zum Weltflüchtlingstag (20. Juni) urteilt, missachtet die EU die international geltenden Normen des Flüchtlingsschutzes "eklatant".[1] "Flüchtlinge riskieren ihr Leben, um Sicherheit zu finden, nur um weggeschickt zu werden, sobald sie Europa erreichen", erklärt AI: Die europäischen Regierungen müssten endlich "aufhören, Leben zu gefährden, und anfangen, ihre internationalen Verpflichtungen zum Schutz dieser verwundbaren Menschen zu erfüllen". Wie die Menschenrechtsorganisation warnt, untergraben die EU-Staaten mit ihrer völkerrechtswidrigen Praxis den Flüchtlingsschutz weltweit; sie "verbreiten eine gefährliche Botschaft über die Behandlung von Flüchtlingen".

Deutsche Zuarbeit
Insbesondere kritisiert AI die italienisch-libysche Abschiebekooperation. Italien greift seit Anfang Mai Bootspassagiere in internationalen Gewässern auf und liefert sie an libysche Stellen aus. Die gesetzlose Verschleppung von Menschen, die sich keines Vergehens schuldig gemacht haben – die freie Schifffahrt in internationalen Gewässern ist niemandem untersagt -, wird dadurch gekrönt, dass unter den Ausgelieferten sich zahlreiche schutzberechtigte Personen befinden. Das UN-Flüchtlingshilfswerk hat vor kurzem mehr als 80 Menschen, die von Italien an Libyen ausgeliefert wurden, befragt und festgestellt, dass eine größere Anzahl von ihnen internationalen Schutz beanspruchen darf. Ihre illegale Überstellung nach Libyen, das wegen seiner Menschenrechtsverstöße gegenüber Flüchtlingen berüchtigt ist, wurde außerdem teilweise mit brutaler Gewalt durchgeführt.[2] Seit Anfang Mai wurden mehr als 900 Menschen von italienischen Stellen in internationalen Gewässern aufgegriffen und zurückgeschoben, meist nach Libyen. Zumindest einmal war die deutsche Bundespolizei involviert: Mitte Juni gab die Besatzung eines Bundespolizei-Hubschraubers, der im Rahmen einer Frontex-Operation im Mittelmeer eingesetzt ist, Informationen über ein Flüchtlingsboot an die Frontex-Einsatzzentrale weiter.[3] Italienische Polizisten, die ebenfalls an der Frontex-Operation teilnehmen, konnten daraufhin den Zugriff durchführen.

Mittellos
Scharfe Kritik übt AI auch an den Lebensbedingungen von Flüchtlingen in Griechenland. Die katastrophale dortige Situation, die seit langem von der Menschenrechtsorganisation Pro Asyl angeprangert wird [4], ist mittlerweile gerichtlich festgestellt worden. Die deutschen Behörden hatten einen Asylsuchenden aus Iran nach Griechenland abgeschoben, weil er über Griechenland in die Bundesrepublik geflohen war; damit ist laut den Bestimmungen der EU – Deutschland hat sie durchgesetzt, um möglichst viele Migranten sofort abweisen zu können – Griechenland als erster EU-Staat auf dem Fluchtweg für Asylfragen zuständig.[5] Wie das Verwaltungsgericht in Frankfurt am Main nun urteilt, sind die Verhältnisse in Griechenland mit einem fairen und gerechten Asylverfahren keineswegs vereinbar. "Das Asylverfahren ist eine Farce: Die Anhörung erfolgt im Minutentakt, statt eines Dolmetschers müssen andere Flüchtlinge in gebrochenem Griechisch übersetzen", fasst Pro Asyl die Situation zusammen. "Flüchtlinge werden mittellos in die Obdachlosigkeit gedrängt, überleben nur aufgrund von Armenspeisungen."[6]

The Future Group
Während Menschenrechtsorganisationen schwere Vorwürfe erheben, vermeldet die EU-Flüchtlingsabwehrbehörde Frontex erste "Erfolge". Vor allem die Abschiebeübereinkunft mit Libyen habe die Zahl der Migranten, die Italien erreichten, stark verringert, berichtet ein Frontex-Funktionär; ihm zufolge dürfte die Zahl der Bootsflüchtlinge, die lebend EU-Territorium erreichen, dieses Jahr um 20 bis 25 Prozent sinken.[7] Die deutsch-europäische Flüchtlingsabwehr hat damit noch längst nicht ihren Höhepunkt erreicht. Dies zeigt der Entwurf für ein "Stockholmer Programm", das im Dezember während der EU-Ratspräsidentschaft Schwedens verabschiedet werden soll. Der Entwurf, der im Juni von der EU-Kommission publiziert worden ist, basiert auf den Vorschlägen einer Arbeitsgruppe ("The Future Group"), die die deutsche Ratspräsidentschaft sowie Bundesinnenminister Wolfgang Schäuble Anfang 2007 gegründet haben.[8] Er umfasst verschiedene Vorschläge zur weiteren Abschottung der EU-Außengrenzen und verlangt unter anderem die "Einführung einer wirksamen Abschiebungs- und Rückführungspolitik".[9]

Vorbild
Für die Zeit nach der Verabschiedung des "Stockholmer Programms" kündigt Spanien engagierten Einsatz für die Vorschläge der von Berlin initiierten "The Future Group" an. Wie Madrid mitteilt, wird es 2010 seine EU-Ratspräsidentschaft nutzen, um den "Kampf gegen die irreguläre Migration" weiter zu verschärfen. Vor allem müssten neue Abkommen mit Herkunfts- und Transitländern der Migranten geschlossen werden, erklärt der spanische Ministerpräsident und nennt als Vorbild ein spanisch-marokkanisches Abkommen.[10] Genau dieses gehörte zu den Elementen der EU-Flüchtlingsabwehr, die Amnesty International zum Weltflüchtlingstag ganz besonders kritisierte: Spaniens bilaterale Übereinkünfte mit afrikanischen Staaten "werden benutzt, um willkürliche Festnahme, Inhaftierung und Abschiebung von Asylsuchenden und Migranten in diesen Ländern zu rechtfertigen", urteilt die Menschenrechtsorganisation. Dass die Übereinkünfte dennoch in der EU als vorbildlich gelten, offenbart den Stellenwert, den humanitäre Aspekte in Berlin und in Brüssel besitzen.

Source: http://www.german-foreign-policy.com/de/fulltext/57581