In
Brüssel spitzt sich diesen Herbst die Diskussion über die Zukunft der
europäischen Innen- und Justizpolitik zu. Während die Innenminister im
Rat immer weitere Befugnisse wollen, regt sich im Parlament
mittlerweile Widerstand gegen eine Europäische Überwachungsunion.
Aufrüstung der Inneren Sicherheit in 5-Jahres-Schritten
Die Europäische Union macht seit 1999 immer fünf-Jahres-Pläne für
den Bereich der Polizei- und Justiz-Zusammenarbeit. Daraus werden dann
Aktionsprogramme entwickelt, die in konkreten Richtlinien und Projekten
münden. In den letzten Jahren gehörten dazu unter anderem die
Vorratsdatenspeicherung, die EURODAC-Datenbank mit Fingerabdrücken von
Asylbewerbern, das Schengen-Informationssystem II, die biometrischen
Reisepässe und ähnliche Projekte. Das derzeit geltende “Haager Programm” läuft Ende des Jahres aus.
Ab 2010 soll dann bis 2014 das “Stockholm-Programm” gelten, das
derzeit von der schwedischen Präsidentschaft mit den anderen
Regierungen verhandelt wird. Die Kommission hat im Juli eine Vorlage dafür gemacht, und die Vorarbeiten liefen im Rahmen der berüchtigten “Future Group”,
einer informellen Arbeitsgruppe der Innenminister, die Wolfgang
Schäuble unter der deutschen Ratspräsidentschaft eingerichtet hatte.
Endgültig verabschiedet werden soll das Stockholm-Programm auf dem
EU-Gipfeltreffen Anfang Dezember in Brüssel.
Auf dem Weg zur Europäischen Überwachungsunion?
Neben einigen sinnvollen Ideen wie einer besseren Harmonisierung des
europäischen Familienrechts besteht das Stockholm-Programm derzeit aus
einem Sammelsurium von Überwachung und Grenzabschottung. Auf den ersten
Blick wird zwar betont, dass der Bürger und seine Rechte im Zentrum der
Erwägungen stehen müssen, aber bei genauerem Hinsehen merkt man
schnell, dass er vor allem in Zentrum der Überwachung stehen soll.
Während das Haager Programm das “Prinzip der Verfügbarkeit”
einführte, nach dem den Strafverfolgern in ganz Europa die Daten ihrer
Kollegen grundsätzlich verfügbar gemacht werden sollen, geht man nun
einen Schritt weiter zum “Prinzip des Zugriffs”. Damit soll der Zugriff
in Teilen automatisiert geschehen, und viele Datenbanken, die
ursprünglich für ganz andere Zwecke aufgebaut wurden (Asylanträge, Visa
und Reisen, Zollkooperation und anderes), sollen für EUROPOL und die
nationalen Polizeibehörden offenstehen. Auch im Zuge der SWIFT-Verhandlungen mit den USA
wird derzeit hinter verschlossenen Türen diskutiert, ob die EU nicht
auch selber sämtliche Banküberweisungen in Europa überwachen und
auswerten soll. Für all das sollen auch gemeinsame IT-Standards
entwickelt werden, damit die Rasterfahndung und der automatische
Abgleich noch ungebremster von statten gehen können. EUROPOL soll zu
einer zentralen Informationssammel- und auswertebehörde ausgebaut
werden. Auch mit Drittstaaten soll Europol Abkommen schließen können,
die den Austausch personenbezogener Daten beinhalten.
Eine Reihe der im Entwurf der Kommission noch grob skizzierten
Maßnahmen ist bereits vor der Verabschiedung des Stockholm-Programms in
konkrete Gesetzgebungsvorschläge übersetzt worden und wird derzeit
schon in Brüssel verhandelt. Dazu gehört unter anderem die IT-Agentur für den Betrieb der ganzen Datenhalden, der Zugriff von EUROPOL auf diverse andere Datenbanken wie die EURODAC-Fingerabdrücke oder die Zolldaten, der Datenaustausch zwischen EUROPOL und mit Drittstaaten
(die aktuelle Liste umfasst neben der Schweiz, Norwegen, den USA und
Kanada auch Länder wie Marokko, Kolumbien, Russland oder China!) und
einiges mehr. Die Sperrung von Webseiten, die Kinderpornografie enthalten, ist auch bereits in der Mache.
Warum diese Eile? Warum wartet man nicht, bis im Dezember die
Staats- und Regierungschefs der EU das Stockholm-Programm endgültig
abgesegnet haben und dann in Ruhe ein Aktionsprogramm daraus entwickelt
wurde? Diese Eile liegt am Lissabon-Vertrag, dessen baldiges
Inkrafttreten mit dem irischen “ja” vor einer Woche so gut wie sicher
ist und für Anfang 2010 erwartet wird. Dann nämlich hat das Europäische
Parlament endlich auch ein Veto-Recht im Bereich Justiz- und
Polizeizusammenarbeit. Dieser Bereich war bisher den Regierungen
vorbehalten, das Parlament wurde nur konsultiert.
Welches Europa wollen wir?
Die Europa-Abgeordneten sind traditionell etwas
bürgerrechtsfreundlicher als der Rat der Regierungen, weil in letzterem
vor allem die Innenminister den Ton angeben. Und sie sind im Vorgriff
auf den Lissabon-Vertrag deutlich selbstbewusster geworden und
verlangen schon jetzt Mitspracherechte oder ein Vertagen der
Überwachungsvorhaben, bis das Parlament mit darüber bestimmen darf. Die
Debatten im Ausschuss für bürgerliche Freiheiten, Justiz und Inneres (LIBE)
seit der Sommerpause über die oben genannten Vorhaben zeigen bereits,
dass eine wachsende Zahl der Abgeordneten ein deutliches Unbehagen
gegenüber noch mehr Überwachung und Datensammlung verspürt. Dies gilt
übrigens nicht nur für die Grünen oder Liberalen, sondern man hört
skeptische Stimmen auch von Sozialdemokraten und sogar Konservativen.
Die Vorsitzenden der Ausschüsse für bürgerliche Freiheiten, für
Recht und für Verfassungsangelegenheiten haben diese Woche nun den Entwurf einer Resolution des Europaparlaments zum Stockholm-Programm
vorgelegt, der am Donnerstag gemeinsam mit Vertretern der nationalen
Parlamente diskutiert wurde. Der Text ist etwas weniger
überwachungsfreundlich als der Entwurf aus der Kommission, hat aber
immer noch merkwürdige Stellen drin. So wird immer noch davon geredet,
dass Sicherheit und Freiheit “ausbalanciert” werden sollten – als gäbe
es keinen Kernbereich von Grundrechten, die solchen Abwägungen nicht
zugänglich sein dürfen, und als würde Sicherheit immer notwendigerweise
mit Freiheitsbeschränkungen hegergestellt werden müssen. Viele
Abgeordnete haben daher auch Änderungsanträge angekündigt.
Hier wird sich in den nächsten Wochen daher die Diskussion über die
Frage zuspitzen, die bereits durch die ganzen Einzelmaßnahmen in der
Luft liegt: Welches Europa wollen wir? Eines von Überwachung und
Misstrauen, von Generalverdacht und flächendeckender Speicherung und
Auswertung harmloser und legaler Aktivitäten, eines in dem die
Sicherheitsbehörden immer mehr Wissen und damit Macht bekommen? Oder
ein Europa, das die Bürger- und Menschenrechte in den Mittelpunkt
stellt, Grundrechtsbeschränkungen nur im Einzelfall nach richterlicher
Überprüfung erlaubt, und generell von Offenheit und Vertrauen
gekennzeichnet ist?
NGOs und Aktivisten mischen sich ein
Dass diese Debatte von großer Bedeutung ist, sieht man auch daran,
wie sich die Zivilgesellschaft hier einmischt. Während beim Haager
Programm vor fünf Jahren nur ganz wenige Expertenvereine Stellungnahmen
eingereicht haben, wird man beim Stockholm-Programm förmlich erschlagen
von Hintergrundpapieren, Kommentaren und anderen Interventionen. Von
amnesty international über die Europäische Menschenrechtsliga und
diverse Flüchtlingsverbände, den Deutschen Anwaltverein, die britische
Rechtsvereinigung, bis hin zum Deutschen Industrie- und
Handelskammertag findet man teils knappe und zugespitzte Kommentare,
teils längere Hintergrundpapiere. Auch diverse nationale Parlamente,
der Europäische Datenschutzbeauftragte und die EU-Grundrechteagentur
haben sich zum Thema geäußert. Überwiegend gehen die Dokumente in
Richtung “mehr Rechtsstaat, weniger Überwachung”.
Auch Aktivistengruppen aus dem Antirepressions- und Flüchtlingsbereich haben sich mit dem Stockholm-Programm intensiv befasst. Gipfelsoli macht seit ungefähr einem Jahr eine Kampagne dazu, das internationale “No-Border”-Camp in Lesbos
im August hat zu den Grenzabschottungs-Aspekten (die hier nicht so
ausführlich behandelt werden konnten) intensiv gearbeitet, und seit
kurzem gibt es ja die Kampagne “Reclaim your Data!” zu den EU-Datenbanken, zu der netzpolitik.org auch mit aufruft (ein Bericht von der Auftaktveranstaltung am 1. Oktober ist hier). Für den EU-Gipfel zur Verabschiedung des Stockholm-Programmes im Dezember in Brüssel werden bereits Protestaktionen geplant.
Langsam tut sich also die Bürgerrechtsbewegung auch auf europäischer
Ebene zusammen. Projektbezogen gibt es das zwar immer mal wieder, aber
was noch fehlt, sind festere Strukturen der Zusammenarbeit, die auch
kontinuierlich mit Leben gefüllt werden. EDRi oder ECLN
haben zwar eine Reihe von Mitgliedern, aber viel mehr als ein Austausch
über die einzelnen Aktivitäten auf den nationalen Ebenen läuft da auch
noch nicht wirklich (bei EDRi könnte sich das ändern, seit dort wieder
jemand in Brüssel fest angestellt ist). Und eine Wissensdatenbank wäre
schön, etwa in Form eines Wikis. Statewatch.org
sammelt zwar (auf der “unübersichtlichsten Website der Welt”, so
Matthias von Gipfelsoli auf der SIGINT) ganz viele offizielle Dokumente
zu diesem Bereich, aber es gibt z.B. noch keinen wirklich guten
Überblick der gesamten Aktivitäten von Bürgerrechtlern und Aktivisten
oder eine Materialsammlung.
Ideen und Energie, etwa hier in den Kommentaren, sind daher sehr
gern gesehen. Wer sich regelmäßig informieren will, kann auch das EDRi-Gram bestellen.