Bauplan für den europäischen Präventivstaat

Die
Staats- und Regierungschefs Europas verabschieden heute mit dem
Stockholmer Programm die Grundsätze der europäischen Sicherheitspolitik
für die nächsten fünf Jahre. 20 Jahre nach dem Fall der Berliner Mauer
sollen feinmaschige Kontrollsysteme nach US-Vorbild alle
Reisebewegungen innerhalb und an den Grenzen der Union erfassen.

Gezählte zwei Dutzend Mal findet sich der Begriff
"Datenschutz" ("Data-Protection") im Stockholmer Programm, dessen
Verabschiedung am Freitag auf der Tagesordnung des Europäischen Rats
steht.

Dieses nicht mit dem Ministerrat zu verwechselnde Gremium wird in der
medialen Öffentlichkeit gemeinhin "EU-Gipfel" genannt, weil im
Europäischen Rat die Staats- und Regierungschefs aller EU-Staaten
versammelt sind.

Das von der scheidenden schwedischen Ratspräsidentschaft ausgearbeitete
Programm definiert die Ziele der Union "für ein offenes und sicheres
Europa, das seine Bürger schützt und ihnen dient". An relativ
prominenter Stelle (Abschnitt 2.5, S. 18f.) wird das Thema Datenschutz
dann auch abgehandelt, allerdings so wie folgt.

Das bestehende EU-Instrumentarium zum Datenschutz solle "evaluiert und
wo nötig verbessert" werden, heißt es da, für Verhandlungen über den
Austausch personenbezogener Daten mit Drittstaaten stehe die
Ausarbeitung von "Empfehlungen" an.

Vorbild US-Heimatschutz

Außerdem spricht sich das Stockholmer Programm für "Forschungsprojekte"
zur Entwicklung neuer datenschutzkonformer Technologien aus. Ein
europäisches "Zertifikat für Datenschutzkonformität" ist ebenso
angedacht wie eine "Kampagne zur Hebung des Datenschutzbewusstseins
unter den Bürgern".

Dafür ist allerdings schon die Lektüre des Stockholmer Programms selbst
geeignet, denn nach all diesen breit ausgewalzten Unverbindlichkeiten
kommt "Datenschutz" nur noch in Zusammenhang mit neuen
Überwachungsmaßnahmen nach Vorbild des US-Ministeriums für Heimatschutz
vor.

Die Realität: Flugpassagierdaten

"Die EU-Kommission wird aufgefordert, ein System zur Erfassung der
Flugpassagierdaten zur Abwehr terroristischer Bedrohungen und schwerer
Verbrechen vorzuschlagen" – selbstverständlich unter "Sicherstellung
eines hohen Datenschutzniveaus" (4.2.2., S. 39).

Auch die geplante "Interoperabilität von IT-Systemen" solle "vollständig datenschutzkonform" vor sich gehen (S. 38).

Gemeint ist damit die Zusammenführung der existierenden Datenbanken
Europol, Eurojust und jener der europäischen Grenzschutzagentur
Frontex, die 2005 in Betrieb gegangen ist.
Zu diesen Daten aus Polizei-, Justiz- und Grenzschutzdatenbanken sollen
dann noch jene von SIS II (alias "Schengen zwei") und VIS (zentrale
Visadatenbank inklusive Fingerabdrücken von allen zehn) kommen, sobald
diese Systeme einsatzfähig sind.

Europäische Heimatschützer

Laut dem EU-Datenschutzbeauftragten Peter Hustinx zieht die
EU-Kommission zwei Optionen in Erwägung, wem die Verantwortung für
diese ungeheure Datenansammlung zu übertragen ist. Ob eine neue Behörde
aus dem Hut gezaubert wird, oder ob Frontex die Zuständigkeit für den
Betrieb des großen EU-Datenbanksystems erhalten wird, ist noch nicht
offiziell entschieden.

Die Kompetenzen entsprechen jedenfalls recht exakt jenen des
US-Heimatschutzministeriums, denn der von der schwedischen
Ratspräsidentschaft formulierte Wortlaut, der auf dem EU-Gipfel
abgesegnet werden soll, sieht auch die folgende Maßnahme vor.

Totale Kontrolle der Reisevorgänge

"Der Europäische Rat ist der Meinung, dass ein elektronisches System
zur Erfassung der Einreise- und Ausreisevorgänge aus den
Mitgliedsstaaten existierende Systeme komplettieren könnte, so dass die
Mitgliedsstaaten Daten effizient austauschen können", heißt es da,
natürlich "unter Wahrung der Regeln des Datenschutzes" (5.1, S. 57).

Wie in der Passage über die Flugpassagierdaten ist hier explizit nicht
von den EU-Außengrenzen die Rede, zumal Großbritannien bereits damit
begonnen hat, alle Ein- und Ausreisebewegungen in der Luft, zu Wasser
und auf dem "Landweg" [Ärmelkanaltunnel] zu erfassen und aufzuzeichnen.
Ein "Reiseerlaubnissystem" für Europa

Weiters soll – auch das genau nach dem Vorbild der USA – untersucht
werden, ob die Einführung eines "Reiseerlaubnissystems" ("a European
system of travel authorisation", S. 57) "sinnvoll und nützlich" sei.

Bekanntlich herrscht für Reisende von Drittstaaten in die USA seit
Jahren Anmeldepflicht über ein Online-Formular, und zwar Tage vor dem
Reiseantritt.

Evaluierte Prävention

"Die Mitgliedsstaaten werden aufgerufen, Präventionsmaßnahmen zu
entwickeln, die insbesondere die Früherkennung von Zeichen der
Bedrohung und Radikalisierung erlauben", heißt es auf Seite 57.

Wie diese Präventionsmaßnahmen aussehen sollen, die dann auf EU-Ebene
für eine mögliche Übernahme in EU-Recht "evaluiert" werden, wird nicht
näher erläutert.

SWIFT, PayPal, "Raubkopierer"

Fehlt noch die Überwachung des Finanzverkehrs. Die findet sich im
Abschnitt "Terrorismus". Dort "ruft der Europäische Rat die Kommission
dazu auf, die Möglichkeiten, den Zahlungsverkehr der Terroristen
rückzuverfolgen, zu prüfen" sowie "neue "Zahlungsformen" dabei zu
berücksichtigen (S. 52).

Übersetzt heißt das: Daten aus dem SWIFT-System und solche von PayPal und Co.

Schließlich hat man noch die unvermeidlichen Wünsche der
Unterhaltungsindustrie, "Raubkopierer" endlich in den Rang von
Schwerkriminellen zu erheben, unter dem Punkt 4.4.5.
"Wirtschaftsverbrechen und Korruption" einfließen lassen.

"Der Europäische Rat ruft Ministerrat und Kommission auf, so schnell
wie möglich Gesetze für strafrechtliche Maßnahmen zur Durchsetzung der
intellektuellen Eigentumsrechte zu ergreifen."

Taktische Abgefeimtheit

Das Stockholm-Programm für die künftige Entwicklung Europas ist ein
Bauplan für den Präventivstaat in zweifacher Hinsicht, weil die
Maßnahmen auf nationalstaatlicher Ebene ebenso greifen wie an den
Außengrenzen der Union.

Besonders bemerkenswert an diesem Dokument ist die taktische
Abgefeimtheit in der Verwendung des Begriffs "Datenschutz", der im Text
übrigens genauso oft vorkommt wie die Grenzschutzagentur Frontex.

Das Gros der zitierten Passagen, in denen sich die Vorstellungen jener
Politiker, die das Dokument maßgeblich beeinflusst haben,
unmissverständlich widerspiegeln, kann dann auch mit einer Suche nach
dem Begriff "Data-Protection" im Dokument aufgefunden werden.

Die Rechteinhaber

Was die Politik angeht, so ist dem Stockholm-Programm schlicht
anzusehen, dass es in einer Zeit entstand, in der Politiker vom Schlage
eines Tony Blair (Sozialdemokraten), Wolfgang Schäuble (CDU) und Franco
Frattini (Berlusconis "Popolo della Liberta") im Bereich "Innere
Sicherheit" europaweit das Sagen hatten, während die USA von George W.
Bush regiert wurden.

Das Stockholmer Programm, benannt nach der Hauptstadt jenes
EU-Mitgliedsstaats, von dem am 30. März 2001 (sic!) die Initiative zur
Vorratsdatenspeicherung ausgegangen war, weist demnach nicht in die
Zukunft Europas, sondern in dessen Vergangenheit.

Source: http://futurezone.orf.at/stories/1633772/