„Quantensprünge“ europäischer Sicherheitszusammenarbeit

Hintergrund zum neuen "Mehrjahresprogramm" europäischer Innenpolitik

Matthias Monroy, Hanne Jobst

Seit Ende des letzten Jahrhunderts findet innerhalb der EU ein Umbau
der "Sicherheitsarchitektur" statt, der durch die Anschläge vom 11.
September 2001 in den USA nochmals beschleunigt wurde. Sichtbare
Phänomene sind z.B. die Verschränkung innerer und äußerer Sicherheit,
ein "Pooling" von Verfolgungsbehörden und Nachrichtendiensten und
vereinfachter Datenaustausch. Auf technischer Ebene wurden neue
digitale Überwachungskameras, Satellitenbeobachtung, Biometrie,
Drohnen, Software zur intelligenten Suche in Datenbanken und
breitbandige Netze zur Verwaltung der immensen digitalen Datenflut
eigeführt.

Auch neue Institutionen und Behörden wurden geschaffen, darunter das "Europäische Polizeiamt" Europol , die Polizeiakademie CEPOL , die "Grenzschutzagentur" Frontex , die "Europäische Einheit für justizielle Zusammenarbeit" Eurojust
oder der "Ausschuss für die operative Zusammenarbeit" aller
polizeilichen Einrichtungen der EU samt ihrem geheimdienstlichen
Lagezentrum (COSI). Auf Initiative der damaligen französischen
Verteidigungsministerin (und jetzigen Innenministerin) Michèle
Alliot-Marie wurde 2004 die "Europäische Gendarmerietruppe" (EGF ) eingerichtet .
Die EGF soll in Krisengebieten die "Öffentliche Ordnung" gewährleisten,
Aufstandsbekämpfung betreiben, geheimdienstliche Informationen
beschaffen und Eigentum schützen. 

Never before have so many people worked to promote
overall European security. Countless meetings are held in every
conceivable format: bilateral and multilateral, formal and informal,
among governments and with those outside.

"EU-Chefdiplomat" Javier Solana in einer "Grußnote an die Wehrkundetagung" 2009 in München

Polizeiliche Kooperation in der EG und EU

Vor dem EU-Vertrag kooperierten europäische Verfolgungsbehörden z.B. im
Rahmen der "TREVI-Gruppe" (ab 1976: "Terrorisme, Radicalisme,
Extremisme et Violence International"). In "TREVI" organisiert waren
Staatsschutzabteilungen der Polizei und Geheimdienste, Themen waren
"Terrorismus" und später Asyl und Migration. 1985 wurde im
luxemburgischen Kurort Schengen das gleichnamige Abkommen zwischen
Deutschland, Frankreich, Niederlande, Belgien und Luxemburg
geschlossen.

Weitere Pools europäischer Sicherheitsbehörden waren (und sind) der
"Club de Berne" (europäische Inland- und
Sicherheitsnachrichtendienste), "Middle European Conference"
(Zusammenarbeit mit Nachrichtendiensten Südosteuropas), "Police Working
Group on Terrorism" (polizeiliche Anti-Terroreinheiten aus 28 Ländern,
gegründet 1979 als "Antwort" auf Rote Brigaden, RAF und IRA). Die
Arbeitsgruppen waren untereinander durch "Verbindungsbeamte" vernetzt,
deren Strukturen zum Aufbau des heutigen undurchsichtigen Netzwerks der
"Liaison Officers" ("Bureaux de Liason") geführt haben.

Die formalrechtliche Grundlage zur "Bekämpfung des Terrorismus" liegt heute auf europäischer Ebene bei der Kommission für Justice and Home Affairs
unter gegenwärtiger Leitung des Vizepräsidenten der Kommission, Jaques
Barrot, in der sogenannten "dritten Säule" der EU. Vor 9/11 war polizeiliche Zusammenarbeit z.B. im Amsterdamer Vertrag
geregelt (TITEL VI. Bestimmungen über die polizeiliche und justizielle
Zusammenarbeit in Strafsachen Artikel 29). Bereits dort war die
Schaffung des "Raumes der Freiheit, der Sicherheit und des Rechts"
niedergelegt. Verabredet wurden weiterhin die

  • engere Zusammenarbeit der Polizei-,
    Zoll- und anderer zuständiger Behörden in den Mitgliedstaaten, sowohl
    unmittelbar als auch unter Einschaltung des Europäischen Polizeiamts
    (Europol)
  • engere Zusammenarbeit der Justizbehörden sowie anderer zuständiger Behörden
  • Annäherung der Strafvorschriften der Mitgliedstaaten.

Die Justizielle Zusammenarbeit in Zivilsachen
wurde 1997 mit dem Vertrag von Amsterdam in die überstaatliche "1.
Säule" integriert, die PJZS aber wegen Souveränitätsvorbehalten einiger
Mitgliedstaaten bezüglich "Innerer Sicherheit" in der 3. Säule
belassen.

Die EU verabschiedet regelmäßig Verträge,
Rahmenvereinbarungen und Richtlinien zur Zusammenarbeit europäischer
Polizeien. Einmal pro Präsidentschaft trifft sich der "Rat der
EU-Innen- und Justizminister" im jeweiligen Vorsitzland, mehrmals pro
Halbjahr in Brüssel oder Luxemburg. Bei formellen Räten fällen sie
Beschlüsse, bei informellen Treffen nicht. Informelle Ratstreffen
dienen der Vorbereitung zukünftiger Entscheidungen.

Die Treffen werden von den Botschaftern der Mitgliedstaaten bei der EU
("Ständige Vertreter") mit Dossiers (von der Kommission unterbreitete
Vorschläge und Entwürfe von Rechtsakten) vorbereitet. Ihr Ausschuss
tagt wöchentlich in zwei Formationen: Der AStV I für fachspezifische
Inhalte mit Stellvertretern der "Ständigen Vertreter". AStV II mit
"Ständigen Vertretern". Politische, wirtschaftliche, institutionelle
Themen sowie Handelsfragen. Im AStV II wiederum arbeiten die Ausschüsse
"SCIFA" (Strategic Committee on Immigration, Frontiers and Asylum) und
"Artikel-36" (auch CATS, Committee of Article Thirty Six, genannt). Der
"Artikel-36-Ausschuss" setzt
sich aus "hohen Beamten" für den Bereich der polizeilichen und
justiziellen Zusammenarbeit in Strafsachen im Rahmen der Europäischen
Union zusammen, darunter auch Frontex, Europol, SitCen, UNHCR.

Von Bedeutung sind neben den regelmäßigen Treffen der EU-Innen- und
Justizminister die sogenannten "Mehrjahresprogramme", die jeweils für
fünf Jahre festgelegt werden und damit für die EU-Innenpolitik eine
zentrale Bedeutung haben. Bisher: 1999 (Tampere ), 2004 (Den Haag) und 2009 (unter schwedischer Präsidentschaft, der Ort ist noch nicht bekanntgegeben).

Das "Tampere-Programm", 1999 unter finnischer Präsidentschaft
beschlossen, hatte hauptsächlich die "Steuerung der Migrationsströme"
zum Inhalt. Neben der Aufwertung der Polizeibehörde Europol wurde die Einrichtung einer "Task Force der europäischen Polizeichefs" beschlossen.

2004 wurde mit dem "Haager Programm" der Ausbau des "Raums der Freiheit, der Sicherheit und des Rechts" verabredet. Wieder wurden Verschärfungen in der Migrationspolitik beschlossen,
darunter der Aufbau der "Grenzschutzagentur" Frontex und das Abfangen
von Flüchtlingen bereits in ihren Herkunftsländern. Die Richtlinien
sind bereits von vielen EU-Mitgliedsstaaten umgesetzt:
Vereinheitlichung der Terrorismus-Gesetzgebung,
Vorratsdatenspeicherung, Ausbau bestehender Datenbanken und gemeinsamer
Zugriff darauf, grenzüberschreitende Polizeizusammenarbeit z.B. bei
Sportereignissen oder politischen Massenprotesten, "Border Management",
Fingerabdrücke bei Antrag auf EU-Visum, ab 2009 biometrische
Identifikatoren in neuen Ausweispapieren, Ausbau der europäischen
Sicherheitsforschung unter stärkerer Integration der Industrie,
Zusammenarbeit in Strafsachen, Polizei im Ausland etc.

SitCen und Europol: Auf dem Weg zu einer zentralisierten europäischen Innenpolitik

Bereits Ende der 90er Jahre wurde in Brüssel das "EU-Lage- und
Analysezentrum" (SitCen) eingerichtet, das beim Generalsekretariat der
EU angesiedelt ist. Im "SitCen" organisieren sich Vertreter nationaler
Geheimdienste und des Militärstabs der Europäischen Union (EUMS). Das
"SitCen" sollte ursprünglich die "Gemeinsame Außen- und Sicherheitspolitik der Union" mit Lagebildern versorgen. Das "Haager Programm" erweiterte
das Aufgabenspektrum um das Sammeln von "Informationen über potenzielle
Krisenherde" und Kooperation mit anderen Instituionen, darunter
Europol. Die "politisch-strategischen Analysen" dienen unter anderem
als Entscheidungsgrundlagen für Maßnahmen der EU im Rahmen der
"Europäischen Sicherheits- und Verteidigungspolitik" (ESVP).

Das "Europäische Polizeiamt" Europol existiert
bereits seit 1992, war aber erst zum "Tampere-Programm" 1999
arbeitsfähig. Im Haager Programm wurde gefordert, die
Europol-Konvention bis zum 1.1.2008 durch ein Europäisches Gesetz zu ersetzen .
Mitgliedstaaten wurden aufgefordert, entsprechende Vorgaben in ihr
Recht umzusetzen, Europol alle "erforderlichen hochwertigen
Informationen" zur Verfügung zu stellen und eine gute Zusammenarbeit zu
fördern. Nationale Polizeien haben Kontaktstellen eingerichtet, die für
den Informationsfluss zwischen Europol und der Länderpolizei sowie den
Zoll- und Grenzbehörden sorgen. In Deutschland ist hierfür das
Bundeskriminalamt zuständig

Europol wird ab 2010 in eine "Agentur" umgewandelt ("Überführung von
Europol in den Rechtsrahmen der EU"), zuständig für "all serious
crimes". Europol soll damit flexibler werden, die Behörde wird
zukünftig aus dem Gemeinschaftshaushalt finanziert . Europol unterhält
zahlreiche Datenbanken ("Check the web-Plattform",
EUROPOL-Informationssystem, "Secure Information Exchange Network
Application"), "Counter-Terrorism Programs" und eine "Counter-Terrorism
Task Force".

"Pooling of knowledge" und "human screening"

Nach 9/11 gab es zahlreiche Sondersitzungen und
Beschlüsse, darunter z.B. des Rats der Justiz- und Innenminister am 20.
September 2001 zur Verstärkung des Kampfes gegen den Terrorismus innerhalb der Europäischen Union zu treffende Maßnahmen.
Alle bestehenden Mittel sollen ausgeschöpft und ausgebaut werden,
darunter gegenseitige Auslieferung, Europol und Eurojust, gegenseitige
Hilfe in Strafverfahren, die "Task Force europäischer Polizeichefs".

Angestrebt
wird ein "pooling of knowledge" mit mehr Einsatz von
Sicherheitstechnologie, vor allem "human screening and detection device
technology", Notfallplanungen gegen Terrorismusattacken, besonders
gegen IT-Systeme. Im November 2001 traf sich erstmals in Den Haag die
"Counter-Terrorism Group", bestehend aus je einem nationalen Nachrichtendienst jedes EU-Staats sowie Norwegen und Schweiz).

Am 27. Dezember 2001 gab die EU einen "Gemeinsamen Standpunkt des Rates" heraus über die Anwendung besonderer Maßnahmen zur Bekämpfung des Terrorismus.
Im Appendix wurde eine erste Liste von Gruppen genannt, darunter auch
aus Griechenland und Baskenland: ETA, Hamas, Hisbollah, Herri Batasuna,
Loyalist Volunteer Force (LVF), Orange Volunteers (OV), Palestinian
Islamic Jihad (PIJ), Real IRA, Red Hand Defenders (RHD), Revolutionäre
Kerngruppen/Epanastatiki Pirines, Revolutionäre Organisation 17.
November/Dekati Evdomi Noemvri, Revolutionärer Volkskampf/Epanastatikos
Laikos Agonas (ELA), Ulster Defence Association/Ulster Freedom Fighters
(UDA/UFF), Continuity Irish Republican Army (CIRA).

Die meisten Mitgliedsländer der EU, z.B. Österreich,
hatten bis dahin keine eigene Definition von "Terrorismus". Am 13. Juni
2002 einigte sich der Rat der Innen- und Justizminister, nach einigen
Änderungen, auf eine gemeinsame Definition.
Als "terroristische Vereinigung" gilt ein "auf längere Dauer angelegter
Zusammenschluss von mehr als zwei Personen, die zusammenwirken, um
terroristische Straftaten zu begehen", "die Bevölkerung zu bedrohen und
die politischen, wirtschaftlichen oder gesellschaftlichen Strukturen
dieses Landes ernsthaft zu schädigen oder zu zerstören (Mord,
Körperverletzung, Geiselnahme, Erpressung, Herstellung von Waffen,
Anschläge, die Androhung, die vorgenannten Straftaten zu begehen usw.).
Die vorgenannten Straftaten können von einer Einzelperson oder einer
Vereinigung begangen werden und gegen ein Land oder mehrere Länder
gerichtet sein".

Entscheidend für die Definition "terroristischer
Straftaten" ist das Motiv, "die Bevölkerung auf schwer wiegende Weise
einzuschüchtern oder öffentliche Stellen oder eine internationale
Organisation rechtswidrig zu einem Tun oder Unterlassen zu zwingen".
Kriminalisierte Delikte sind u.a. "schwerwiegende Zerstörungen an einer
Regierungs- oder einer öffentlichen Einrichtung, […] einem allgemein
zugänglichen Ort oder einem Privateigentum" wenn "Menschenleben
gefährdet" werden oder es zu "erheblichen wirtschaftlichen Verlusten"
kommt. Der Rat erklärte allerdings, dass die Versammlungsfreiheit oder
das Streikrecht nicht angetastet würden. Im gleichen Beschluss wurde
die Einrichtung von länderübergreifenden "gemeinsamen
Ermittlungsgruppen" präzisiert, die im "Tampere-Programm" bereits
anvisiert wurden.

Nach den Anschlägen in Madrid 2004 reagierte die EU-Kommission mit einem neuen action paper,
das den Ausbau der bestehenden Institutionen fordert und ein "clearing
house" (Suchhilfen im Internet) zum Datenaustausch anregt. Der Handel
und Transport "gefährlicher Güter" (Sprengstoffe) soll mittels neuer
und aufgerüsteter alter Datenbanken besser kontrolliert werden können,
dabei soll vor allem auf neue Technologien zurückgegriffen werden:
Satellitenunterstützung (GALILEO) oder RFID (Radio Frequency
Identification Device)..

Im 2004 verabschiedeten "Haager Programm" wurde das Prinzip der "Verfügbarkeit" in den Mittelpunkt gestellt und eine Standardisierung des Datenaustauschs in einem Rahmenbeschluss 2005
präzisiert. Ein Strafverfolgungsbeamter oder Europolbediensteter, der
für seine Arbeit innerhalb des gesetzlich vorgeschriebenen Rahmens
Informationen benötigt, soll diese Informationen von dem Mitgliedstaat,
der über sie verfügt, für den erklärten Zweck erhalten können. Damit
"die benötigten Informationen die Binnengrenzen der EU ungehindert
passieren können", erhalten Verfolgungsbehörden Online-Zugang zu
"verfügbaren Informationen bzw. bei Informationen, die nicht online
zugänglich sind, zu Indexdaten": DNS-Profile, Fingerabdrücke,
Ballistische Erkenntnisse, Kfz-Halterermittlungen, Telefonnummern und
Verbindungsdaten ("unter Ausschluss des Inhalts der
Nachrichtenübermittlung sowie von Verkehrsdaten, es sei denn, letztere
befinden sich bereits im Gewahrsam einer verfügungsberechtigten
Behörde"), Daten aus Personenstandsregistern.

Das "Haager Programm" sieht
einen Ausschuss "Innere Sicherheit" vor ("Standing Committee on
Internal Security" – COSI) um operative Zusammenarbeit zu fördern.
Vertreter der Regierungen sollen dort "assistiert" werden von Europol,
Eurojust, dem Strategic Committee on Asylum, Immigration and Frontiers
und der Police Chiefs Task Force.

Am 27. Mai 2005 wurde von einigen Mitgliedsländern (Deutschland,
Frankreich, Spanien, den Benelux-Staaten und Österreich) der "Vertrag
von Prüm" unterzeichnet, der "die Vertiefung der grenzüberschreitenden
Zusammenarbeit, insbesondere zur Bekämpfung des Terrorismus, der
grenzüberschreitenden Kriminalität und der illegalen Migration" regeln
soll. Das deutsche Innenministerium hatte sich während der
EU-Präsidentschaft 2007 erfolgreich dafür eingesetzt, dass der "Vertrag
von Prüm" nun "in den europäischen Rechtsrahmen überführt" wurde (Nadelsuche im wachsenden Heuhaufen),
also in allen Mitgliedsländern ratifiziert werden kann: "Deutschland
erachtet den "Vertrag von Prüm" als wegweisend für die weitere
polizeiliche Zusammenarbeit und möchte, dass möglichst alle
EU-Mitgliedstaaten hiervon profitieren".

Der besondere Mehrwert des Vertrages besteht in dem
erheblich verbesserten und effizient ausgestalteten Verfahren zum
polizeilichen Informationswesen. Der Vertrag erlaubt den zuständigen
Strafverfolgungsbehörden den Datenzugriff im Wege eines
hit-/no-hit-Verfahrens auf DNA- und Fingerabdruckdaten sowie einen
vollautomatischen Datenzugriff auf Fahrzeugregisterdaten. Statt der
Einrichtung eines aufwendigen zentralen Datensystems werden mithin die
bestehenden nationalen Datenbanken vernetzt.

Bundesinnenminister Wolfgang Schäuble

 

Laut Innenministerium
stellt der Vertrag von Prüm einen "Quantensprung im Bereich des
grenzüberschreitenden Datenaustausches" dar. Weitere Schwerpunkte der
deutschen EU-Präsidentschaft 2007 waren

  • Terrorismusbekämpfung (Europäischer Informationsverbund, Zusammenarbeit in der Überwachung des Internet) 
  • Polizeiliche Zusammenarbeit (Enge Zusammenarbeit der europäischen Polizeibehörden, Der Vertrag von Prüm, SIS)
  • Europol
  • Katastrophenschutz
  • Migrations- und Asylpolitik
  • Visapolitik
  • Frontex
  • Außendimension des JI-Bereichs (Polizeiliche Interventionen in "Drittstaaten")

Das deutsche Innenministerium arbeitete intensiv an
der Einrichtung eines europäischen Projekts "Check the Web"
(Überwachung des Internet) an, das gegenwärtig unter deutscher Leitung
bei Europol angesiedelt ist.

2008 wurde unter französischer Präsidentschaft die "Europäische Definition von Terrorismus" geändert
und drei neue Straftatbestände in die EU-Rechtsvorschriften
aufgenommen: "öffentliche Aufforderung zur Begehung einer
terroristischen Straftat; Anwerbung für terroristische Zwecke;
Ausbildung für terroristische Zwecke".

Ein "Frühwarnmechanismus zur Aufspürung von Personen,
die im Verdacht stehen, Verbindungen zu Terrorismus und organisierter
Kriminalität zu haben", soll eingerichtet werden, des Weiteren wurde
ein Kooperationsabkommen zwischen der Europäischen Polizeiakademie
(CEPOL) und Interpol verabschiedet (Verstärkung der Ausbildung von
"erfahrenen Polizeibeamten", Lehrgänge, Seminare und Konferenzen,
gemeinsames Pro­gramm für Lehrpläne und Unterrichtsmaterial).

Frankreich ist einer der EU-Mitgliedsstaaten der regelmäßig von "Gemeinsamen Ermittlungsgruppen" (JIT) Gebrauch macht.
Zuerst 2004 mit Spanien, war Frankreich bis Ende 2008 in 20 JIT
involviert. 11 davon waren bezogen auf "organisiertes Verbrechen", 9
auf "Terrorismus". 12 von 20 wurden mit Spanien ins Leben gerufen, vier
mit Belgien, zwei mit Deutschland, eines jeweils mit den Niederlanden
und Rumänien.

Wie z.B. auch in Deutschland werden die Strafverfolgungsbehörden in Frankreich gegenwärtig reorganisiert .
Nachrichtendienste und Polizei werden über die neue "Direction centrale
du reseignement interieur" (Zentrale des Inlandnachrichtendienstes,
DCRI) koordiniert ,
die von Innenministerin Michèle Alliot-Marie aufgebaut wurde. Das DCRI
besteht aus mehr als 4.000 Beamten, 3.000 von ihnen sind Polizisten, so
genannte "Aktive" und berechtigt zur "geheimen Verteidigung". Ihre 175
Kommissare dürfen in jedem Department zu agieren. In der "Unité de
Coordination de la Lutte Anti-Terroriste" (UCLAT) sind alle nationalen
Polizeien zur "Bekämpfung des Terrorismus" zusammengefasst.

Der Apparat nimmt dabei auch linksradikale und anarchistische Gruppen
aufs Korn (die als "anarcho-autonome" bezeichnet werden),
kriminalisiert ihren Protest und betreibt Spaltungen. Betroffen sind
die Verdächtigen der "Tarnac"-Ermittlungen, die zu spektakulären Verhaftungen im November 2008 geführt hatten . Das deutsche BKA ist an den Ermittlungen beteiligt .
Ebenfalls im Visier der französischen neuen "Anti-Terror"-Behörden sind
die "freeparty"-Szene, Proteste gegen Sarkozy, Unterstützung der Kämpfe
in den Abschiebeknästen CPE, der Widerstand gegen das Treffen
europäischer InnenministerInnen in Vichy im November 2008, die
Mobilisierung gegen die Datenbank Edvige und ihre "kleine Schwester"
Cristina sowie die Planungen gegen den für 2009 geplanten NATO-Gipfel.

Proteste gegen das neue "Mehrjahresprogramm" in Vorbereitung

Das "Haager Programm" von 2004 läuft aus, ein neues Programm soll nun
im Herbst 2009 unter schwedischer Präsidentschaft, vermutlich in
Stockholm, beschlossen werden. Während des deutschen EU-Vorsitz 2007
schuf der deutsche Innenminister Wolfgang Schäuble mit dem damaligen
EU-Kommissar für Inneres ("Justice and Home Affairs"), Franco Frattini,
die Future Group.
Die "Future Group" bezeichnet sich selbst als "informelles Gremium" von
Innenministern, das Leitlinien europäischer Innenpolitik erarbeitet.
Ihre Diskussionen sind nicht öffentlich, es gibt keine Protokolle, ihre
Berichte werden von niemandem bestellt. Dennoch bereiten sie
richtungsweisende Entscheidungen vor.

Zur Verabschiedung des neuen "Mehrjahresprogramms" hat die "Future Group" eineWunschliste
für Polizeikooperation, Kampf gegen den Terrorismus, Management von
Missionen in Drittstaaten, Migration und Asyl sowie Border Management,
Zivilschutz, neue Technologien und Informationsnetzwerke vorgelegt (Die Wünsche der EU-Innenminister).
Prioritäten sind die "Aufrechterhaltung des ‚Europäischen Modells’",
die "Bewältigung der zunehmenden Abhängigkeit zwischen innerer und
äußerer Sicherheit" sowie die Gewährleistung eines "bestmöglichen
Datenflusses innerhalb europaweiter Netzwerke". Zur Debatte stehen ein
zentrales europäisches Bevölkerungsregister, grenzüberschreitende Onlinedurchsuchung,
mehr Kontrolle des Internet, bessere Satellitenüberwachung,
"Risikoanalyse" mittels Software, "e-borders", gemeinsame
Abschiebeflugzeuge und -flüge, Flüchtlingslager in "Drittstaaten", mehr
polizeiliche Interventionen außerhalb der EU, Ausbau der
paramilitärischen "Europäischen Gendarmerietruppe", Zusammenarbeit der
In- und Auslandsgeheimdienste, Einsatz des Militärs zur
Migrationsabwehr, Ausbau und Vereinheitlichung von Polizei-Datenbanken
und vereinfachter Zugriff darauf etc.

Die Maßnahmen, die in Stockholm beschlossen werden
sollen, werden erst in einigen Jahren mit ihrer Ratifizierung in den
Mitgliedsstaaten spürbar. Während die Programme von Tampere und Den
Haag noch ohne größere Aufmerksamkeit eingetütet wurden, inszenierte
die EU-Kommission mit einer Umfrage zum "Stockholm Programm"
demokratische Partizipation. Jedoch konnten nur vorgegebene Antworten
angeklickt werden, eine echte Kritik europäischer Innenpolitik war
weder vorgesehen noch möglich. Obwohl nur 770 User an dem "survey"
teilnahmen, wird dies als erfolgreiche Mitbestimmung interpretiert ("Die Meinung der Bürger zählt")..

Verschiedene Gruppen und Organisationen haben ihren Widerstand gegen
das neue Programm angekündigt. Die britische Bürgerrechtsgruppe
"Statewatch" hatte schon letztes Jahr zusammen mit dem
sicherheitskritischen "European Civil Liberties Network" (ECLN) eine
alternative Umfrage
zur vermeintlichen "Bürgerbeteiligung" der EU an dem neuen Programm
gestartet. Ein Aufruf gegen das Treffen der EU-Innen- und
Justizminister in Schweden soll im März veröffentlicht werden. Auch im
Rahmen des NATO-Gipfels im April in Strasbourg, Baden-Baden und Kehl
sind Proteste gegen das neue EU-Programm geplant .

Source: http://www.heise.de/tp/r4/artikel/29/29802/1.html