Widerstand gegen das “Stockholm-Programm”

Erklärung [1] des Europäischen Bürgerrechtsnetzwerks*[2] zum neuen Fünfjahresplan der EU zur Justiz- und Innenpolitik

April 2009

Das "Stockholm-Programm" legt die Agenda für die europäische Justiz- und Innenpolitik sowie die Innere Sicherheit von 2009 bis 2014 fest. Die EU hat bereits durch die Schaffung militarisierter Grenzen, die Verpflichtung zu einem proaktiven Überwachungsregime und durch die zunehmend aggressive Außen- und Verteidigungspolitik einen bedenklich autoritären Charakter angenommen. Die laufende Diskussion unter politischen Entscheidungsträgern der EU lässt erwarten, daß dieser Ansatz in den nächsten fünf Jahren vertieft und ausgeweitet wird. Es ist davon auszugehen, daß das "Stockholm-Programm", das sich auf den Abschlußbericht der EU-Zukunftsgruppe gründet – eingehend analysiert in "The Shape of Things to Come"(**) [3] -, im Dezember unter der schwedischen EU-Ratspräsidentschaft vom Europäischen Rat (den 27 Regierungen) verabschiedet wird.

Wir machen uns große Sorgen angesichts dieser Entwicklungen und haben deshalb die Initiative ergriffen, die Öffentlichkeit über diesen Angriff auf ihre demokratischen Rechte und die Verschlechterung der Menschenrechtslage in Europa und über Europa hinaus zu informieren. Wir rufen Bürgerrechtsgruppen und Einzelpersonen auf, ihre Meinung über das Stockholm-Programm zu äußern und an einem demokratischen Europa zu arbeiten.

Hintergrund: Tampere, Den Haag und Stockholm

Die EU ist seit mehr als einem Jahrzehnt dabei, die sogenannte "Zone für Freiheit, Sicherheit und Gerechtigkeit" – Gesetze und Politik zu Polizeizusammenarbeit, Terrorabwehr, Immigration, Asyl und Grenzkontrollen – zu entwickeln. Sie behauptet, die Bürgerrechte gewahrt sowie Privatsphäre und Politik gegeneinander abgewogen zu haben, doch viele sind anderer Meinung und argumentieren, daß die EU die Menschenrechte und demokratischen Standards nicht einhält, auf denen sie zu gründen behauptet.

Das Stockholm Programm baut auf den zwei vorangegangenen Fünfjahresplänen – dem Tampere- (1999-2004) und dem Den Haager-Programm (2005-2009) auf -, die beide ohne jegliche Beteiligung von Parlamenten oder Zivilgesellschaft ausgearbeitet und verabschiedet wurden. Während die EU-Verträge, wie Amsterdam (oder Lissabon, wenn er angenommen wird), die rechtliche Grundlage für die Gesetzgebung bilden, legen die Fünfjahrespläne fest, wie die Kräfte eingesetzt werden, indem sie die Parameter für die künftige Politik und Praxis bestimmen.

Diesmal ist der Ablauf ein wenig anders. Im Jahr 2007 hat der Rat (27 EU-Regierungen) die "Zukunftsgruppe" eingesetzt, die ihren Bericht(**) im Juli 2007 herausgegeben hat. Dieser legt die Agenda für einen Kommissionsvorschlag vor und die nationalen sowie das Europäische Parlament werden "konsultiert" – die letzte Entscheidung liegt jedoch beim Rat allein.

Es wird deutlich, wie viel bereits verloren ist und wie viel auf dem Spiel steht.
 
Die totale Überwachung installieren

Die EU ist in den von ihr zur Überwachung ihrer Bürger verabschiedeten Gesetzen wesentlich weitergegangen als die USA. Während der PATRIOT ACT eine traurige, allgemeine Bekanntheit erlangt hat, hat die EU still und leise die Gesetze zur obligatorischen Abnahme von Fingerabdrücken aller Inhaber von EU-Pässen, Visa und Aufenthaltsgenehmigungen verabschiedet sowie die obligatorische Speicherung – für den allgemeinen Gesetzesvollzug – aller Telekommunikationsdaten (unsere Telephon-, E-Mail- und Internetprotokolle) und aller Fluggastdaten (von Passagieren nach, aus und durch Europa).

Aufgrund der nationalen Gesetze, die EU-Recht umsetzen, machen die staatlichen Stellen sich an die Arbeit, ein zuvor nicht vorstellbar detailliertes Profil des privaten und politischen Lebens ihrer Bürger zu erstellen, oftmals ohne jegliche Datenschutzstandards, richterliche oder demokratische Kontrollen.

Laut der EU-"Zukunftsgruppe" ist dies lediglich der Anfang eines "digitalen Tsunamis", der den Gesetzesvollzug revolutionieren soll, indem er der Polizei und den internen Sicherheitsbehörden eine ungeheure Menge an Informationen bereitstellt. Das EU-Datenschutzrecht wurde damit bereits hinter sich gelassen, Überwachung fast ausgeschlossen. Das Recht des einzelnen auf Privatsphäre und individuelle Freiheiten wird auf fatale Weise ausgehöhlt.
 
Die EU finanziert zugleich die Entwicklung einer europäischen "Heimatschutz"-Industrie, indem sie Milliarden von Euro an Subventionen an europäische Unternehmen zahlt, um sie im Wettbewerb mit dem militärisch-industriellen Komplex der USA auf dem lukrativen Markt für Kriegsgerät und Sicherheitstechnologie zu unterstützen. Im Gegenzug  üben die Unternehmen einen wachsenden und unüberprüfbaren Einfluß auf die Sicherheitspolitik der EU aus.

Was ist von den nächsten fünf Jahren zu erwarten: ein EU-Personalausweis und -Bevölkerungsregister, "Fern"-Durchsuchungen (online) von Computerfestplatten durch die Polizei, Internetüberwachungssysteme, Satellitenüberwachung, automatisierte Ausgangs- und Zugangssysteme, die von Maschinen betrieben werden, autonome Zielsysteme, Risikoanalysen- und Profilerstellungssysteme.

Festung Europa: Von der Grenzkontrolle zur sozialen Kontrolle

Seit Ende der 1970er Jahre führen die EU-Mitgliedstaaten und seit kürzerem auch die EU-Institutionen einen selektiven Krieg gegen Migration. In den 1970ern wurden die Möglichkeiten zur Arbeitsimmigration eingeschränkt, gefolgt von der Installation substantieller und verfahrensrechtlicher Barrieren für die Beantragung und Erteilung von Asyl zu Beginn der 90er. Ende der 90er wurden die Kontrollen an den Außengrenzen verstärkt und militarisiert, gefolgt von der allmählichen Verlagerung der Migrationskontrolle in den Bereich außerhalb der Grenzen durch Wiederzulassungsvereinbarungen mit Drittländern sowie Internierungszentren rund um die EU und die FRONTEX, die im Mittelmeer patrouilliert.

Es handelt sich um einen selektiven Krieg gegen Migration, weil sich die restriktiven Maßnahmen der EU besonders gegen jene richten, die aus Armut und vor Verfolgung fliehen: während Industriestaaten "weiß gelistet" bleiben, werden die armen Länder auf die "schwarze Liste" für EU-Visa verbannt und restriktive Kontrollen gegen ihre Bürger eingesetzt. Während eine sich schnell entwickelnde, militärisch ausgerichtete EU-Grenzpolizei (FRONTEX) und eine Reihe zentraler Datenbanken (SIS, SIS II, Eurodac, VIS) geschaffen werden, um Migration ohne Papiere oder die irreguläre Migration auf globaler Ebene zu "bekämpfen", wird zur Migration gutausgebildeter Fachkräfte ermutigt, um das alternde Arbeitskräftepotential der EU zu ersetzen und den dortigen Lebensstandard zu halten und die "Wettbewerbsfähigkeit" der EU in der globalen Marktwirtschaft zu sichern. Zur gleichen Zeit wird die Arbeit von Migranten ohne Papiere, die ohne arbeits- und sozialrechtlichen Schutz arbeiten – und unter beständiger Androhung der Deportation – in Europa schamlos ausgebeutet. Diese Arbeit kommt Europas produktivem Wirtschaftssektor, wie der Landwirtschaft und der Bauwirtschaft, zugute sowie dem Dienstleistungsbereich und der reproduktiven Wirtschaft, insbesondere dem Reinigungs-, Hotel- und Restaurantsektor sowie den Privathaushalten. Es ist weithin bekannt, daß die EU-Wirtschaft auf die Arbeit der Migranten angewiesen ist, dennoch verweigern die Regierungen den Arbeitnehmern in klarer Verletzung der internationalen Schutzstandards, die in der EU-eigenen Menschenrechtskonvention wie auch denen der UNO oder der ILO niedergelegt sind, systematisch ihre Arbeits- und Menschenrechte.

Während EU-Politiker die Verletzung der internationalen Menschenrechte durchweg ignoriert und sogar dazu ermutigt haben, haben Aktivisten für soziale Gerechtigkeit Belege für die "tödliche Realität" der ausschließenden Immigrations- und Asylpolitik geliefert. Sie haben fast 10.000 Todesfälle dokumentiert, die eine direkte Folge der "Festung Europa" darstellen. Es ist eine erdrückende Anklage gegen neoliberale Globalisierung. Während zum Zwecke des Profits bestimmter Industrien zur Reise um die Welt ermutigt wird, wird Reisen um zu überleben verurteilt. Zur gleichen Zeit wird der wirtschaftliche Beitrag, den Migranten, die in Niedriglohnsparten arbeiten, für die Zielländer leisten, von diesen Ländern nicht anerkannt.

Der Apparat und die Institutionen, die geschaffen wurden, um Immigration in die EU zu kontrollieren, dehnen sich rasch aus. Die Grenzkontrollen entwickeln sich kontinuierlich zu einer breiteren Form sozialer Kontrolle, die sich nicht allein mit Migranten befaßt, sondern auch mit Bürgern. Flughäfen und Außengrenzen werden schnell zu Polizei- und Militärkontrollpunkten an denen ein jeder einer ausgedehnten Überprüfung und Sicherheitskontrolle unterworfen wird. Diese Infrastruktur entwickelt sich zu einem wuchernden, datengestützten Netz, das sich von den Grenzen her ausbreitet, um schließlich ganze Territorien und Bevölkerungen abzudecken.

Was ist von den nächsten fünf Jahren zu erwarten: E-Grenzen, Passagierprofilsysteme, ein EU-"Zugangs/Ausgangs"-System, Drohnen zur Grenzüberwachung, gemeinsame EU-Abschiebeflüge, spezielle EU-Abschiebeflugzeuge, EU-finanzierte Internierungszentren und Flüchtlingslager in Drittstaaten.
 
Die Militarisierung der Sicherheit, die Versicherheitlichung von allem

Die EU befindet sich mitten in einem Paradigmenwechsel bezüglich der Art und Weise wie Europa und die weitere Welt kontrolliert werden. Das ist das Ergebnis einer Reihe miteinander verknüpfter historischer Trends, wie die allmähliche Verwischung der Grenzen zwischen Polizei- und Militäreinsatz und zwischen Innerer und Äußerer Sicherheit, der weitverbreitete Einsatz von Überwachungstechnologien und die Entwicklung des Sicherheitsindustriekomplexes, des wirtschaftlichen Motors für diese Entwicklungen.

Wir erleben zur Zeit die politische "Versicherheitlichung" einer Unmenge komplexer politischer Fragen, angefangen von der Nahrungsmittel- und Energieversorgung bis hin zu komplexen sozialen und Umwelterscheinungen wie Klimawandel und Migration. Das Ergebnis ist eine zunehmend sicherheitspolitisch militarisierte Herangehensweise an anhaltende soziale und wirtschaftliche Probleme. In Zeiten erhöhter globaler Unsicherheit besteht die Gefahr, daß die Frage der Gesetzmäßigkeit gegenüber dem Ziel, die Bedrohung zu beseitigen, in den Hintergrund tritt. Wie die NATO positioniert sich die EU neu als Weltpolizist und entwickelt das Vermögen, in gescheiterten Staaten und Konfliktzonen einzugreifen, den zu erwartenden Folgen von Klimawandel, Energiekrise, Nahrungsmittelkrise und "unkontrollierten" oder autonomen Migrationsbewegungen entgegenzutreten und Menschenhandel, Terrorismus und Piraterie auf hoher See zu bekämpfen.

Die EU geht den gleichen militaristischen Weg bei sozialen Konflikten und Krisenmanagement innerhalb Europas. Die EU-Politik zur Kontrolle von Gipfeln und Protesten gegen internationale Organisationen, zum Schutz wichtiger Infrastruktur, der zivile Notstand, Krisenmanagement und Katastrophenschutz basieren jeweils auf der gleichen Strategie: die Situation mit Gewalt kontrollieren; intervenieren, um Bedrohungen und Opposition zu bekämpfen. Auf diese Weise wird man verfahren, falls die aktuelle ökonomische Krise zu vermehrten sozialen Spannungen und Protesten führt.

Was ist von den nächsten fünf Jahren zu erwarten: Ausbau der paramilitärischen europäischen Gendarmerieeinheiten, Aufbau von EU-Kampfgruppen, Krisenmangementmissionen in Afrika, permanente EU-Militärkontrollen in Mittelmeer und Atlantik.
 
Ein rechenschaftsfreier EU-Staatsapparat

Mit der Entwicklung und Umsetzung dieser Strategien geht die Entwicklung eines immer ausgeklügelteren internen und externen Sicherheitsapparats unter der Schirmherrschaft der EU einher. Dieser besteht aus Gesetzesvollzug und Sicherheitsagenturen (die europäische Polizeibehörde EUROPOL, die Behörde für die Zusammenarbeit der Justiz EUROJUST und das gemeinsame Lagezentrum SITCEN), EU-Datenbanken und -Informationssystemen (Polizei- und Zollinformationen, Verbrechens- und Immigrationsstatistiken, DNA- und Fingerabdrücke), paramilitärischen Organisationen wie FRONTEX und die Europäische Polizeitruppe, einer wachsenden militärischen Leistungsfähigkeit und einem Netzwerk von Verantwortlichen, die kaum zur Rechenschaft gezogen werden können, das die allgemeinen Regeln und die Politik der EU täglich weiterentwickelt. Dieser Apparat wird mit jedem Vorschlag zur "Harmonisierung", "Interoperabilität" oder "Konvergenz" in Recht und Praxis der Mitgliedstaaten ausgeweitet.

Was ist von den nächsten fünf Jahren zu erwarten: Mehr Macht für die EU-Behörden, Vernetzung nationaler Polizeisysteme, eine EU-Verbrechensdatei, ein Ständiger EU-Ausschuß zur Inneren Sicherheit [4] (COSI), der sich mit Einsatzfragen befaßt.

Aufruf zum Wandel

Die sicherheitsbegründete Antwort auf soziale und wirtschaftliche Konflikte ist eine Wahl und nicht im mindesten ein notwendiges Übel. Terrorismus und gewaltsame Konflikte sind das Ergebnis spezifischer sozialer und wirtschaftlicher Ungerechtigkeit, einer ungleichen Verteilung des weltweiten Wohlstands und anhaltender Armut. Diese Ungleichheiten und Ungleichgewichte auf der lokalen, regionalen und globalen Ebene anzugehen, sollte auf jeder politischen Agenda im ersten Range stehen. Die Wahl, Konflikte mit Waffengewalt, Datensammlungen, präventiven Polizeimaßnahmen und Überwachung zu beantworten, dient den spezifischen Interessen einiger weniger, aber ganz sicher nicht den Interessen der globalen oder nationalen Bevölkerungen.

Wir fordern einen Wandel der aktuellen politischen Agenda in Richtung des Schutzes der sozialen, wirtschaftlichen sowie der allgemeinen Menschenrechte. Die Stockholm-Agenda und viele weitere ihr vorausgegangene Strategien der Justiz- und Innenpolitik zu Migration, Terrorismus, Polizeiarbeit und Sicherheit stellen eine deutliche Verletzung der demokratischen Standards und Menschenrechte dar. Daher fordern wir die Rücknahme der Antiterrorgesetzgebung und restriktiven Migrationsgesetze und die Schaffung eines wirklich demokratischen politischen und Wirtschaftssystems.

Wir rufen alle dazu auf, sich an den Diskussionen über das Stockholm-Programm zu beteiligen, sich selbst und andere zu informieren und die eigenen Ansichten kundzutun und Freiheit und Demokratie gegen die Überwachungsgesellschaft zu verteidigen, zu der die EU sich entwickelt.

(*) Gründungserklärung des ECLN und eine Liste der Gruppen und Einzelpersonen, die an der Gründung beteiligt waren oder das ECLN unterstützen: http://www.ecln.org/about.html

(**) Als Download erhältlich unter http://www.statewatch.org/analyses/the-shape-of-things-to-come.pdf, als Buch erschienen bei Spokesman Books (£5.99, 80 Seiten, Paperback, ISBN: 978 085124 7601), siehe http://www.spokesmanbooks.com/acatalog/Socialist_Renewal.html#a436.

Dokumentation zum Stockholm-Programm ist zu finden unter http://www.statewatch.org/future-group.htm

Weitere Hintergrundinformation: http://stockholm.noblogs.org

Übersetzung aus dem Englischen: Redaktion Schattenblick

Anmerkungen der Redaktion Schattenblick:

[1] übersetzt von und veröffentlicht im Schattenblick zum 22. April 2009; im Zweifel gilt das englische Original
[2] European Civil Liberties Network – deutsche Fassung der Gründungserklärung siehe http://www.ecln.org/about_de.html
[3] Die Gestalt der Dinge, die kommen werden / Die Kontur der Zukunft
[4] EU Standing Committee On Internal Security – COSI