Aufrüstung im Inneren

Neuer Fünfjahresplan für Europäische Union: Mit »Stockholmer Programm« sollen Kompetenzen der Polizei ausgeweitet und mit dem Militär verzahnt werden
Von Hanne Jobst und Matthias Monroy

Die Europäische Union soll noch unter schwedischer Ratspräsidentschaft mehr Kompetenzen im Bereich innere Sicherheit erhalten. Am vergangenen Freitag wurde ein Zwischenstand in den Verhandlungen um das neue Mehrjahresprogramm der EU veröffentlicht. Nur wenige Tage vor der offiziellen Präsentation des Entwurfs des »Stockholmer Programm« genannten Fünfjahresplans war eine Vorabversion des Unterausschusses für die Freiheiten und Rechte der Bürger, Justiz und innere Angelegenheiten publik geworden. Ein Vergleich beider Dokumente, zwischen deren Erstellung nur zehn Tage liegen, gibt Aufschluß über die Verhandlungen hinter verschlossenen Türen

Die EU beeilt sich, einzelne Richtlinien noch vor Beschluß des »Stockholmer Programms« im Dezember vorzubereiten und damit den Prozeß ihrer Abstimmung zu beschleunigen. Die Kommission verhandelt etwa mit den USA über eine Einigung über die Weitergabe von Daten des Finanzdienstleisters SWIFT oder der verdachtsunabhängigen Erfassung von Flugpassagierdaten. Für eine Einigung im Rahmen der Verhandlungen um SWIFT mußte die US-Delegation allerdings zugestehen, im Gegenzug auch europäische Polizeien mit US-Bankdaten zu versorgen. Druckmittel war die Ankündigung, daß die EU ein eigenes »Terrorist Finance Tracking Program« (TFTP) entwickelt, um Überweisungsdaten künftig selbst auszuwerten. Dieser Hinweis findet sich im nichtoffiziellen Entwurf des »Stockholmer Programms«, wurde aber in der jetzt publizierten Version getilgt.

Im Arbeitspapier fand sich auch der Vorschlag zu prüfen, wie »kriminelle Provider« durch Entzug von IP-Adressen bekämpft werden könnten. Dieser Versuch einer EU-weiten Strategie für Internetsperren wurde aus dem nun vorliegenden Entwurf ebenfalls herausgenommen. Die deutsche Bundesregierung hatte Anfang Oktober eine europäische Lösung zur Durchsetzung von Internetsperren im »Stockholmer Programm« gefordert und eine Evaluierung ähnlicher Maßnahmen anderer Länder »mit Blick auf das soeben beschlossene Zugangserschwerungsgesetz in Deutschland« vorgeschlagen.

Verantwortlich für die EU-weite Kontrolle des Internets wäre die Polizeibehörde Europol, die ab 2010 neue Kompetenzen erhält und fortan für »alle Formen grenzüberschreitender schwerer Kriminalität« zuständig ist. Europol unterhält zahlreiche eigene Datenbanken und betreibt eine »Check the web-Plattform«. Nach dem Willen der schwedischen Präsidentschaft wird sich die Behörde fortan zur »Drehscheibe« des Informationsaustauschs, »Service Provider« und »Netzwerkplattform« entwickeln. Um zukünftig abweichendes Verhalten besser voraussehen zu können, soll die EU zudem ein Beobachtungszentrum zur Verbrechensprävention (»Observatory for the Prevention of crime« – OPC) aufbauen. Im Vorabentwurf war noch die Rede davon, dessen Sekretariat bei Europol anzusiedeln. Nun soll die Koordination dezentral im seit 2001 eingesetzten Europäischen Netz für Kriminalprävention organisiert werden, das sich unter anderem der Gewaltprävention im Internet, aber auch der Jugendkriminalität verschrieben hat. Das Beobachtungszentrum wird umfangreiche statistische Daten erheben, die mittels Auswertung durch Data-Mining-Software »proaktive« Prognosen über zukünftige Straftaten erlauben sollen. Ergebnisse dieser Risikoanalysen werden in »Erasmus-Programmen für europäische Polizeien« europaweit ausgetauscht.

Weitgehend unverändert in beiden Entwürfen ist die Priorität einer »Strategie der inneren Sicherheit« für die EU, die Gebrauch »proaktiver« (also vorhersehender) wie auch geheimdienstlicher Informationen machen soll. Angestrebt wird eine Verzahnung mit anderen EU-Agenturen, darunter der »Strategie der externen Sicherheit«. Weil in einer globalen Welt die »Kriminalität keine Grenzen kennt«, soll die innere Sicherheit als ein »umfassender Ansatz« von Militär, Polizei, Sicherheitsforschung und Industrie organisiert werden. Hier verbirgt sich das Konzept von »Homeland Security«, das seit der Gründung des gleichnamigen Ministeriums in den USA auch unter Europas Innenpolitikern populär geworden ist. Im Entwurf der schwedischen Präsidentschaft werden eine ganze Reihe von »Herausforderungen« genannt, in denen die außenpolitische Dimension von Fragen innerer Sicherheit tangiert ist, darunter Migration und Asyl, Zusammenarbeit mit »Drittstaaten«, Drogen- und Menschenhandel, organisiertes Verbrechen, Schutz kritischer Infrastrukturen, Informa­tionsfluß und die Schaffung einer »zuverlässigen Umgebung« für Unternehmen, Handel und Investitionen. Eine Schlüsselrolle soll der Zusammenarbeit mit den USA und Rußland eingeräumt werden. Andere Länder »strategischer und geografischer Prioritäten« sind etwa Marokko, Ägypten und Libyen, die verläßlicher Partner zur Förderung der europäischen Sicherheitsindustrie und der Migrationsabwehr werden sollen.

Mit dem »Stockholmer Programm« soll die Verzahnung von Polizei und Militär forciert werden, darunter Polizeieinsätze im Ausland unter militärischer Befehlsgewalt, auch von der sogenannten Grenzschutzagentur Frontex. Während das NATO-Strategiepapier »Towards a grand strategy for an uncertain world« die Notwendigkeit starker »Homeland Security« als Grundlage einer effektiven Verteidigungspolitik betont, streben die EU-Innenminister wiederum mehr polizeiliche Interventionen außerhalb der EU an. Der nun vorliegende Entwurf, der in den nächsten Wochen in den zuständigen Ausschüssen der Mitgliedsstaaten diskutiert wird, kommt den Innenministern entgegen: Durchgesetzt hat sich ihre Forderung, auch Europol solle »seine internationale Dimension verstärken« und stärker in die Europäische Sicherheits- und Verteidigungspolitik (ESVP) eingebunden werden.

Mehrjahresprogramme der Europäischen Union
Von Matthias Monroy

Die Vorläufer des sogenannten Stockholmer Programms, die 1999 (Tampere) und 2004 (Den Haag) formulierten Fünfjahrespläne der EU, sind Absichtserklärungen. Sie definieren Maßnahmen in einem »Raum der Freiheit, der Sicherheit und des Rechts«.

Als Querschnittsaufgaben gelten Polizei- und Justizkooperation, Kampf gegen den Terrorismus und organisierte Kriminalität, Management von Missionen in Drittstaaten, Migration und Asyl sowie »Border Management«, also Grenzregime, Zivilschutz, neue Technologien und Informationsnetzwerke. Nach Beschlußfassung der Innen- und Justizminister am 1. Dezember wollen die EU-Regierungschefs das nunmehr dritte Mehrjahresprogramm auf ihrem Gipfel am 10. und 11. Dezember endgültig verabschieden.

Mehrjahresprogramme der EU sind keine verbindlichen Richtli­nien, sondern formulieren zunächst Visionen. Das »Tampere-Programm« und das »Haager Programm« wurden jeweils in sogenannte Aktionspläne übersetzt, die dann im Einzelnen ausgehandelt wurden und in Rechtsakte mündeten. Nur die Rechtsakte sind verbindlich und müssen von den Mitgliedsstaaten in nationales Recht implementiert werden. Dieser Prozeß dauert gewöhnlich mehrere Jahre. Bereits in Richtlinien umgesetzte Vorhaben der letzten beiden Fünfjahrespläne sind etwa die Vorratsdatenspeicherung, die Schaffung der Grenzschutzagentur »Frontex«, die Aufwertung der Polizeibehörde Europol, eine einheitliche Terrorismusgesetzgebung und -definition, Fingerabdrücke bei Antrag auf EU-Visum, biometrische Identifikatoren in neuen Ausweispapieren, gemeinsame Polizeieinsätze im Ausland … Die Liste ließe sich fortsetzen.

Im durchgesickerten Vorabentwurf des »Stockholmer Programms« findet sich die Forderung, eine Ausarbeitung des Aktionsplans zu überspringen, im offiziellen Papier hingegen ist dieser heikle Punkt gestrichen.

Das Europäische Parlament hat bislang nur wenig Mitspracherecht. Bis zur endgültigen Ratifizierung des Lissabon-Vertrags wird Innenpolitik in den Ratssitzungen beschlossen. In einigen Politikbereichen müssen die Regierungen der 27 Mitgliedstaaten ihre Entscheidungen noch einstimmig treffen, darunter die Gemeinsame Außen- und Sicherheitspolitik (GASP) und die polizeiliche und justizielle Zusammenarbeit in Strafsachen (PJZS). Auch Vereinbarungen zur Migrations- und Asylpolitik müssen einstimmig entschieden werden.

Nach Inkrafttreten des Lissabon-Vertrags stimmen die Mitgliedsstaaten in Fragen der polizeilichen und justiziellen Zusammenarbeit nach dem Mehrheitsprinzip ab, das Europäische Parlament muß seine Zustimmung geben. Das Parlament will auch im »Stockholmer Programm« mehr gefragt werden. Mitte November wird in Brüssel über eine entsprechende Resolution diskutiert, die von vier Ausschüssen gemeinsam entworfen wurde.

Reaktionen: »Gläserner Unionsbürger«

»Anläßlich des Treffens des Rates Justiz und Inneres in Luxemburg am 23. Oktober und zum Abschluß des Verhandlungsprozesses der EU-Mitgliedstaaten fordert die Europäische Gruppe Nationaler Menschenrechtsinstitutionen, daß das ›Stockholmer Programm‹ die Menschenrechte von Personen stärkt, die nicht abgeschoben werden können. Diese Personen verfügen über keinen regulären Aufenthaltstatus innerhalb der EU, können aber aus rechtlichen oder tatsächlichen Gründen nicht abgeschoben werden. Sie befinden sich daher in einem rechtlichen Schwebezustand ohne angemessenen Zugang zu menschenrechtlichem Schutz. (…) Die EU-Gesetzgebung sollte die Menschenrechte dieser Personengruppe stärken, was Menschenrechte wie die Rechte auf Bildung, Gesundheit, Ernährung, Wohnen und das Recht auf Zugang zum Arbeitsmarkt einschließt.«
Europäische Gruppe Nationaler Menschenrechtsinstitutionen

»Die Gefahr heißt gläserner Unionsbürger.«
Alexander Dix, Berliner Datenschutz­beauftragter

»Grundsätzlich ist nichts gegen die Kooperation von Polizeibehörden aus verschiedenen Ländern einzuwenden, wenn es darum geht, Kriminelle zu fassen.«
Christian Engström, Piratenpartei

»Die EU steht mitten in einem Paradigmenwechsel bezüglich der Art und Weise, wie Europa und der Rest der Welt kontrolliert werden.«
European Civil Liberty Network, ECLN

»Die Gesellschaft bewegt sich in Richtung Überwachungsgesellschaft, in der jede Transaktion und fast jede Bewegung der Bürger aufgezeichnet werden.«
Peter Hustinx, europäischer Datenschutzbeauftragter

»Es stellt sich insofern weniger die Frage nach einem weiteren Ausbau, sondern eher die Frage nach einem durchdachten Rückbau der bezüglichen Systeme. Der im Stockholmer Programm skizzierte weitere Weg steht dieser Erkenntnis freilich diametral entgegen.«
Datenschutzrat der Republik Österreich

»Widerstand gegen die Zunahme von Überwachung und Kontrolle, gegen Repression und Aufstandsbekämpfung bleibt noch viel zu oft auf nationalstaatlicher Ebene stecken.«
Aufruf »Summer of Resistance 2009«

Source: http://www.jungewelt.de/2009/10-22/043.php