[german-foreign-policy.com] Am heutigen "Tag der
Menschenrechte" beschließt die EU mit dem "Stockholmer Programm" einen
neuen Fünfjahresplan zur Flüchtlingsabwehr. Das Programm steckt den
Rahmen für die künftige EU-Innenpolitik ab. Die darin festgelegten
Pläne zur Hochrüstung der EU-Außengrenzen sind auf Druck der
Bundesregierung verschärft worden und führen die brutale
Abschottungspolitik fort, die unter Menschenrechtsorganisationen auf
scharfe Kritik stößt. Die EU nehme die Rechte von Flüchtlingen "nicht
ernst" und setze nur auf die Abweisung nicht erwünschter Migranten,
beklagt Amnesty International. Das Massensterben im Mittelmeer sei
"Ausdruck einer völlig enthemmten Abwehrpolitik Europas", erklärt Karl
Kopp, Europareferent von PRO ASYL. Auch im Inland verstießen die
deutschen Behörden systematisch gegen die Menschenwürde und damit auch
gegen die Menschenrechte von Flüchtlingen, urteilt Volker Maria Hügel,
Bundesvorstandsmitglied von PRO ASYL, gegenüber dieser Redaktion. Die
Flüchtlingsabwehr Berlins und der EU hat inzwischen Todesopfer in
fünfstelliger Größenordnung gefordert – im Mittelmeer, im Atlantik und
in Osteuropa. Das Massensterben an den EU-Außengrenzen gehört damit zu
den großen Weltkatastrophen der letzten 20 Jahre.
Willkür und Tod
Das "Stockholmer Programm", das der Europäische Rat
auf seinem heute beginnenden Treffen verabschieden wird, stößt unter
Menschenrechtsorganisationen auf scharfe Kritik. Das Programm steckt
den Rahmen für die EU-Innenpolitik der kommenden fünf Jahre ab und
umfasst die gesamte Bandbreite des Themenbereichs von Strafrecht und
innerer Repression bis zur innenpolitischen Zusammenarbeit mit
Drittstaaten. Einen erheblichen Stellenwert nimmt die Flüchtlingsabwehr
ein. Über die diesbezüglichen Passagen des Papiers urteilt Amnesty
International: "Eine Migrationspolitik, die sich nur damit beschäftigt,
Menschen zurückzuweisen, und die die Rechte von Migranten nicht ernst
nimmt, kann nicht funktionieren". Mit der Abschottung der Außengrenzen
seien in der Praxis immer wieder "willkürliche Inhaftierungen,
erzwungene Rückkehr und sogar der Tod von Menschen" verbunden, "die
laut Berichten dem Sterben auf See überlassen werden".[1] Auch die
Flüchtlingsorganisation PRO ASYL protestiert gegen das neue Stockholmer
Programm. "Völkerrechtswidrige Zurückweisungen, willkürliche
Inhaftierung, der Tod von Flüchtlingen sind traurige Realität und
Ausdruck einer völlig enthemmten Abwehrpolitik Europas", urteilt Karl
Kopp, Europareferent von PRO ASYL.[2]
Deutscher Druck
Tatsächlich gehen gerade die Passagen des Stockholmer
Programms, die eine Verschärfung der Abschottung gegen Flüchtlinge
vorsehen, auf deutschen Druck zurück. Das Bundesinnenministerium hat am
2. Oktober eine Stellungnahme zum damals vorliegenden Entwurf für den
Fünfjahresplan abgegeben, die eine Vielzahl vermeintlicher Mängel
konstatiert. Es gebe "einige Bereiche, in denen wir unsere Ziele
konkreter und ambitionierter fassen sollten", heißt es in dem Dokument,
das anschließend "deutsche Hauptanliegen für das künftige Stockholmer
Programm" auflistet.[3] Den größten Raum nehmen dabei Forderungen ein,
welche die Flüchtlingsabwehr betreffen.
Deutsche Hauptanliegen
Das Bundesinnenministerium hebt in seiner
Stellungnahme ausdrücklich hervor, der "Migrationsdruck an den
Außengrenzen" der Europäischen Union schiebe "aus unserer Sicht die
Thematik der illegalen Migration auf europäischer Ebene in den
Vordergrund".[4] Zu den deutschen Forderungen gehören koordinierte
europäische Abschiebungen ("wirksame Rückführungspolitik auf
Gemeinschaftsebene"), die Anwerbung hochqualifizierten Fachpersonals
aus aller Welt ("effizientere Steuerung legaler Migration") und die
Einbindung der Staaten Afrikas in die Flüchtlingsabwehr
("Euro-Afrikanischer Migrationspakt"). Berlin verlangt die Stärkung der
umstrittenen EU-Grenzschutzagentur Frontex, finanzielle und technische
Hilfen für Abschottungsmaßnahmen entlang der EU-Außengrenzen sowie die
Stationierung von Repressionspersonal ("Verbindungsbeamte") in den
Herkunfts- und Transitländern; Vorbild sind offenbar die
"Verbindungsbeamten" des Bundeskriminalamts.[5] Schließlich sollen
schon in den Herkunftsländern auch operative Unternehmungen gestartet
werden; in der Stellungnahme des Innenministeriums ist vom "Einsatz von
Dokumenten- und Visaberatern" die Rede – unter dem Stichwort
"EU-Vorverlagerungsstrategie". Die Vorschläge zielen sämtlich darauf
ab, die Abwehr nicht erwünschter Migranten zu perfektionieren und die
Herkunfts- und Transitländer für die Abwehrprojekte zu nutzen.
Abschreckungsmaßnahmen
Den Forderungen, die ohnehin schon brutale
Flüchtlingsabwehr an den EU-Außengrenzen zu verschärfen, entspricht die
Fortführung der Abschreckungspolitik gegen Flüchtlinge innerhalb
Deutschlands. Letzte Woche verhandelten die Innenminister des Bundes
und der Bundesländer über eine "Altfallregelung" für zehntausende
Flüchtlinge, die seit langer Zeit mit dem prekären Aufenthaltsstatus
einer "Duldung" in Deutschland leben. Eine humanitäre Regelung
verweigerten sie ihnen erneut. german-foreign-policy.com sprach mit
Volker Maria Hügel vom PRO ASYL-Bundesvorstand über die Resultate des
Treffens und über die Lage von Flüchtlingen in Deutschland am heutigen
Tag der Menschenrechte.[6] Wie Hügel feststellt, wird gegenwärtig "noch
nicht einmal darüber diskutiert, ob man die Abschreckungsmaßnahmen"
gegen Migranten, "die hierzulande seit Jahrzehnten praktiziert werden,
endlich abschafft". Dauerhafte Unterbringung in Lagern, durch das
sogenannte Asylbewerberleistungsgesetz erzwungene Armut und die
Verweigerung freier Bewegung im Land verletzten "die Menschenwürde und
damit auch die Menschenrechte", urteilt Hügel. Er resümiert:
"Flüchtlinge sind nicht Menschen zweiter Klasse, sie sind Menschen
dritter Klasse." (Den gesamten Wortlaut des Interviews finden Sie hier.)
Der Blick von außen
Wenig wahrgenommen werden hierzulande Warnungen von
Menschenrechtsorganisationen, der Umgang mit Flüchtlingen in
Deutschland und an den Außengrenzen der EU bleibe im außereuropäischen
Ausland nicht unbemerkt. Die enthemmte Flüchtlingsabwehr und die
Missachtung der Rechte von Migranten drohten "die Glaubwürdigkeit der
EU noch stärker zu unterminieren", warnt etwa Amnesty International.[7]
Außerdem "beschmutze" die Abschiebekooperation mit Staaten wie Libyen,
die schwere Menschenrechtsverletzungen begingen, "den Ruf der EU".
Solche Warnungen weisen darauf hin, dass das anmaßende Auftreten
Berlins außerhalb Europas, mit dem sich Deutschland als angeblicher
"Hüter der Menschenrechte" darstellt und entsprechenden Einfluss
verlangt, immer seltener ernst genommen wird. Der uninteressierte
Umgang mit fremdem Menschenleben in den europäischen Wohlstandszentren
prägt immer stärker das Bild Europas und Deutschlands in aller Welt,
das durch den Blick von außen auf die realen Praktiken der
"europäischen Zivilisation" entsteht.
Bitte lesen Sie auch unser Interview mit Volker Maria Hügel sowie unser EXTRA-Dossier Festung Europa.
[1] JHA: Fill in gaps of Stockholm Programme in
relation to irregular migration; Presseerklärung von Amnesty
International, 30.11.2009
[2] Das Stockholmer Programm und die traurige Realität an Europas Grenzen; Presseerklärung von Pro Asyl, 30.11.2009
[3], [4] Deutsche Stellungnahme zum Vorschlag der Europäischen
Kommission für ein Mehrjahresprogramm für den Bereich Justiz und
Inneres von 2010 bis 2014 ("Stockholmer Programm") für den Bereich
Innenpolitik; Berlin, 02.10.2009
[5] s. dazu Praktische Unterstützung und Nicht tolerierbar
[6] s. dazu Das Prinzip Abschreckung
[7] JHA: Fill in gaps of Stockholm Programme in relation to irregular
migration; Presseerklärung von Amnesty International, 30.11.2009