Stockholmer Programm, für Deutschland nicht ambitioniert genug

Nach den Programmen von Tampere 1999 und Den Haag wird Anfang Dezember
auf dem Rat der Staats- und Regierungschefs der EU ein neuer
Fünfjahresplan für die Innere Sicherheit der EU, das so genannte
Stockholmer Programm, verabschiedet werden. Obwohl das deutsche
Innenministerium (BMI) bereits über die Gründung einer informellen
„Future Group“ während der deutschen EU-Ratspräsidentschaft im ersten
Halbjahr 2007, welche das Programm ausarbeiten sollte, massiven
Einfluss auf dessen Ausgestaltung nahm, kritisierte das BMI den Entwurf
der Kommission vom 10. Juni 2009 als unzureichend. In einem Schreiben
des BMI an die Kommission heißt es u.a.: "Es gibt Bereiche, in denen
wir unsere Ziele konkreter und ambitionierter fassen wollen". So
kritisiert die Bundesregierung u.a., dass es in der Mitteilung der
Kommission "keine grundsätzliche Positionierung zu der
JI-­Außendimension [außenpolitischen Komponenten der EU- Innen und
Justizpolitik] durch ein separates Kapitel" gibt: "Wir sprechen uns für
ein eigenständiges Kapitel aus, denn die Bedeutung der externen
Dimension der europäischen Innenpolitik ist stetig gewachsen und auch
zu einem wichtigen Bestandteil der gesamten EU­-Außenpolitik geworden.
Diese Entwicklung muss sich in den kommenden Jahren in der
EU-­Ratspolitik widerspiegeln … Zu denken ist etwa an die Anknüpfung
an Migrationsrouten für die Zusammenarbeit im Bereich Migration". Damit
sind Bemühungen gemeint, Herkunfts- und Transitstaaten u.a. durch
Polizei- und Militärausbildung sowie durch die Weitergabe von
Aufklärungsdaten dazu zu bewegen, bei der Abschiebung ihrer eigenen
Bürger mit der EU zu kooperieren, TransitmigrantInnen festzusetzen und
ihre Grenzen abzuschotten. Konkret bedeutet dies, dass sich die
EU­-Außenpolitik nicht etwa an Fragen der Menschenrechte, sondern –
eher im Gegenteil – an einer möglichst effektiven Unterbrechung der
Fluchtrouten orientieren soll. Diese Verquickung innenpolitischer
Zielsetzungen mit der Außenpolitik ist ein klarer Hinweis auf den
imperialen Charakter der EU.

Konkreter heißt es hierzu später: "Daher sollten wir die Vorschläge zur
Bekämpfung der illegalen Migration im Stockholmer Programm noch
ergänzen“. Benannt werden hierzu die „verstärkte Einbindung und Ausbau
von Frontex als Steuerungsinstrument, Ausbau der
EU-Vorverlagerungsstrategie durch Einsatz von Dokumenten­- und
Visaberatern, Erhöhung zielgerichteter Ausbildungs-­ und
Ausstattungshilfe, sowie Schaffung eines Netzwerks von
Verbindungsbeamten in Herkunfts-­ und Transitstaaten; hierzu
abgestimmtes Vorgehen der Mitgliedsstaaten." Gleichzeitig solle sich
die EU "für qualifizierte Migranten aus Drittstaaten attraktiver
machen". Diese „gezieltere Steuerung der Migration“ erfolgt
letztendlich durch die Illegalisierung und Abschiebung unerwünschter
MigrantInnen, insbesondere also von Flüchtlingen.

Weiter fordert die Bundesregierung: "Die Europäische Union sollte
[daher] eine noch engere Verbindung und stärkere gegenseitige Nutzung
des Fachwissens in den Bereichen Außenpolitik; Militär; Innenpolitik,
insbesondere Sicherheit, Polizei, Bevölkerungsschutz und
Entwicklungszusammenarbeit gewährleisten". Dass diese Forderung
ausgerechnet von der deutschen Regierung stammt, der eine
Zusammenarbeit zwischen Militär und Polizei verfassungsrechtlich
untersagt ist, macht deutlich, dass die Exekutiven der Mitgliedsstaaten
versuchen, sich über den Umweg der Europäischen Innen- und
Sicherheitspolitik aller legislativen Schranken ­ und den Lehren aus
dem deutschen Faschismus ­zu entledigen.

Die abweisende Haltung gegenüber Flüchtlingen, deren Fingerabdrücke
beim Stellen eines Asylantrags in der Datenbank EURODAC gespeichert
werden, kommt an weiteren Stellen zum Ausdruck: "Eine weitere Priorität
sollte die Verabschiedung der Rechtsgrundlagen für einen polizeilichen
Zugriff auf EURODAC sein, um über EURODAC verfügbare Fingerabdrücke zur
Gefahrenabwehr oder zur polizeilichen Identifizierung von
terroristischen und sonstigen schwerwiegenden Straftätern nutzen zu
können.“ Hiermit werden Asylbewerber nicht nur per se mit Terrorismus
in Verbindung gebracht, sondern es soll eine ohnehin rechtlich
benachteiligte Bevölkerungsgruppe unabhängig von Vorstrafen o.ä.
insgesamt dem polizeilichen biometrischen Zugriff eröffnet werden.

Doch auch auf anderen Gebieten sollen die Spielräume der europäischen
Sicherheitskräfte ausgeweitet werden: "Wir unterstützen die
Kommissionsvorschläge zur besseren Nutzung des Potentials von EUROPOL
in Bezug auf die internationale Dimension oder die verstärkte
Einbeziehung beim Einsatz gemeinsamer Ermittlungsgruppen, die wir noch
konkretisieren und formalisieren wollen". Schlimm genug, dass es diese
"gemeinsamen Ermittlungsgruppen" auch ohne Formalisierung längst gibt.
Die systematische Vermengung geheimdienstlicher und polizeilicher
Befugnisse und Strukturen, für die EUROPOL als europäisches Polizeiamt
steht, wirft ein bezeichnendes Licht auf den sich unter reger deutscher
Beteiligung herausbildenden "Raum der Sicherheit, der Freiheit und des
Rechts".

Christoph Marischka

Source: http://www.imi-online.de/2009.php?id=2063